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Die Geschichten des O.

25.08.2013

Für den Angeklagten steht die Sache unter keinem guten Stern - schuld ist sein eigener Verteidiger, dessen Gebaren nur Schmunzeln und Kopfschütteln hervorruft. Hei, das macht Spaß, im Scheinwerferlicht eines bundesweit beachteten Strafverfahrens umherzustolzieren und sich aus der satten, behaglichen Position des für nichts Zuständigen, nichts Gestaltenden, nichts Entscheidenden, für nichts Verantwortlichen in medialer Öffentlichkeit als allwissender Hüter von Recht und Moral aufzuplustern. Diese Gelegenheit bietet sich ihm vielleicht nie wieder in unserem biederen Großstädtchen. Wie er es schaffen will, damit Staatsanwaltschaft und Gericht zu überzeugen, bleibt abzuwarten - per aspera ad astra?

Schon am ersten Verhandlungstag wird klar, dass dem Angeklagten eigentlich das Bundesverdienstkreuz und der Medizin-Nobelpreis im Doppelpack verliehen werden müssten. Dass er stattdessen vor Gericht steht, sei „absurd“, meint der Verteidiger, der völlig fertig ist mit der Welt: Er habe bislang viel erlebt in seiner Anwaltslaufbahn, aber das jetzige Verfahren stelle einiges auf den Kopf. „Meine Betroffenheit ist zu erkennen“, verlautbart er sicherheitshalber für alle, die sie nicht erkannt haben, und fühlt sich bemüßigt, rührend entlarvend zu betonen, dass seine Betroffenheit nicht gespielt sei. Meinen Sie denn, dass man so etwas von einem Rechtsanwalt vermuten könnte, Herr Rechtsanwalt?

Zutiefst erschüttert beklagt er, dass Alkoholiker vor einer Lebertransplantation mindestens 6 Monate abstinent sein müssen. „Wer stellt solche Richtlinien auf?“, fragt er, anscheinend nicht so ganz mit dem Thema vertraut. Dann holt er zum alles vernichtenden Schlag aus und vergönnt uns eine Sternstunde der Rhetorik: „Wo lebe ich denn?“ Wo laufen sie denn? Vielleicht auf einem andern Stern, wie so viele seiner Zunft. Trotz seiner nüchternen Art liegt dem Herrn Rechtsanwalt der schnellstmögliche Austausch zirrhotischer Säuferlebern ganz besonders am Herzen, dieses Thema ist ein gefundenes Fressen: die perfekte Mischung aus Jura auf hohem, abstraktem Niveau (Verletzung von Grundrechten) und populistischer Sentimentalität nach RTLII-Manier (30-jährige Alkoholikerin mit 2 Kindern). Wie im Rausch kommt der Herr Rechtsanwalt so richtig in Fahrt: Die Sechsmonats-Regelung sei eine Anweisung von oben zum Totschlag - wie der Schießbefehl im SED-Staat. Ist diese Gleichsetzung der Gipfel der Perfidie? Nein, sondern nur ein Abgrund an kleinkarierter Dummdreistigkeit. Die Sechsmonats-Regelung hat schlichtweg den Sinn, dass ein Patient das Seinige, Grundlegende beitragen muss, damit die Transplantation erfolgreich ist - und zwar auf Dauer! Wenn ein Alkoholiker im Laufe einer Suchttherapie weiterhin trinkt, fliegt er aus der Maßnahme raus - auch auf die Gefahr, dass er körperlich, psychisch und sozial zugrunde geht. Aber vielleicht hat der Herr Rechtsanwalt ja recht mit seiner unmittelbar einleuchtenden Forderung, dass auch aktive Alkoholiker eine neue Leber erhalten müssen: Da wird sie doch am intensivsten genutzt, ist also schon unter dem ökonomischen Aspekt am rentabelsten eingesetzt. Als flankierende Maßnahme empfehle ich, die Alki-Patienten während der Transplant-OP höchst vorsorglich an einen Äthanol-Tropf zu hängen, damit das kostbare Spenderorgan nicht infolge akuter Entzugserscheinungen sofort wieder abgestoßen wird.

Der Staranwalt, der kokette, kleine Schelm, weiß natürlich, wer „solche Richtlinien“, also die Transplantations-Richtlinien, worin auch der böse, böse MELD-Wert geregelt ist, aufstellt: die Bundesärztekammer (BÄK). Aber sogar das sei unzulässig, weil die BÄK zur Erstellung der Richtlinien gar nicht legitimiert sei. Nanu, wie geht das denn: Hat die BÄK die Zuständigkeit für die Transplant-Richtlinien im Wege eines Militärputschs an sich gerissen? Natürlich nicht, sondern ihr ist diese Aufgabe durch § 16 Transplantationsgesetz zugewiesen - und nicht erst seit 01.08.2013 (ein Blick ins Gesetz, Herr Rechtsanwalt ...). Nach alledem fragt man sich, warum der Angeklagte und sein Verteidiger überhaupt solch einen Starwars-artigen Großangriff auf die dunkle Seite der Macht in Gestalt der Transplant-Richtlinien und ihrer Urheber, die sämtlich unqualifizierte Nichtskönner seien, durchführen. Dies wäre nur dann sinnvoll und schlüssig, wenn das Verteidigungskonzept lautet: „Die Transplantations-Richtlinien sind unsinnig, gar schädlich, deshalb war es gerechtfertigt, gar erforderlich, sie zu missachten und zu übertreten.“ - wie von der Anklage behauptet. Gleichzeitig weist der Verteidiger aber alle Vorwürfe gegen den Angeklagten entschieden zurück. Wie er diese Widersprüchlichkeit auflösen will, steht in den Sternen.

MELD und Geld regiert die Welt, und schuld sind sowieso immer die anderen: Der Angeklagte erläutert, dass es ethisch-moralisch sehr bedenklich sei, wenn Chef- und Oberärzte Gehaltszulagen dafür erhalten, dass sie möglichst viele Transplantationen durchführen. Dieses bittere Schicksal habe auch ihn selbst in Form seines Arbeitsvertrages ereilt, obwohl er sich vehement dagegen gewehrt habe. Was soll diese aufgesetzte Gutmenschen-Pose? Gehaltszulagen für durchgeführte Transplantationen sind keineswegs bedenklich. Sie sind lediglich eine Anerkennung für besonderen Fleiß, wie sie in jedem Beruf möglich ist; ein Anreiz, sich nicht mit dem dicken Grundgehalt auf den ebensolchen Hintern zu hocken, sondern überdurchschnittliche Leistung zu erbringen. Zulagen müssen aber nicht zwangsläufig zu Lug und Trug führen - das ist vielmehr jedes einzelnen Gewissensentscheidung. Auch niedergelassene Ärzte, auch selbstständige Handwerksmeister verdienen umso mehr, je mehr sie leisten. Natürlich können sie dies betrügerisch missbrauchen, indem sie überflüssige Leistungen erbringen, schlampig arbeiten, Statistiken manipulieren, falsch abrechnen. Sie können es aber auch bleiben lassen und sich einfach korrekt verhalten. Auch die freiberuflichen Organe der Rechtspflege bekommen umso mehr Geld, je mehr Fälle sie bearbeiten - bis hin zu besonders pfiffigen, die statt einen Prozess zu führen das Urteil selber schreiben.

Das sind so tragische Einzelschicksale, vor denen die Gesellschaft natürlich die Augen verschließt: Herr S. will Bundeskanzler werden und sieht sich von Verarmung bedroht, weil das Gehalt nicht reicht. Herrn O. wurden gegen seinen Willen - unter Androhung fristloser Kündigung? - erbarmungslos Gehaltszulagen aufgezwungen. Wenn sie ihm so sehr zuwider waren, warum spendete das kleine Sensibelchen sie denn nicht für Bedürftige (z. B. Herrn S.)?

Und vor allem: Warum ging er mit seiner Kritik an den Transplantations-Richtlinien denn nicht an die Öffentlichkeit? Warum publizierte er sie nicht in der Fachliteratur und verbreitete sie nicht auf Kongressen? Warum wirkte er nicht auf politischer und berufspolitischer Ebene darauf hin, dass dieser Quell alles Bösen, diese Anweisung zum Serienmord geändert, vielleicht gar abgeschafft wird? Wie konnte er es verantworten, tatenlos mitanzusehen, wie in Europa allenthalben der MELD-Wert angewendet wird? Dieses verbrecherische Treiben hätte er doch wie ein Löwe bekämpfen müssen - „aus Liebe zum Beruf, zu den Menschen und zum Leben“, wie er sich selbst beschreibt.

Was ist die Steigerung von labern? Lebern. Oder um den Schwiegermuttermörder zu zitieren: „Ich schließe mich den Ausreden meines Verteidigers an.“

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