16.2.2020
Ihr seid das Volk!
La révolution permanente - Georges Moustaki besang sie, und auch Ihr Thüringer habt nun erkannt, dass der revolutionäre Elan von 1989/90 allmählich in träge, verweichlichte Bürgerlichkeit abzuschlaffen droht und deshalb neu angefacht werden muss: Nach nunmehr 30 Jahren ist die Zeit reif, das System erneut aufzumischen, an seinen Grundfesten zu rütteln und es schließlich zum Einsturz zu bringen. Eine Generation zuvor triebt Ihr eine 44-jährige Einpartei-Diktatur in den Untergang, nun kommt die 30-jährige Mehrparteien-„Demo“kratie an die Reihe. Den Bonzen muss einmal mehr nachhaltig klargemacht werden, wo der Hammer (und der Zirkel?) hängt. Schluss mit dem allfünfjährlichen Schmierentheater: Das Volk darf brav seine Kreuzchen machen, woraufhin die Parteien nach eigenem Gutdünken irgendwelche hanebüchenen Koalitionen auskungeln; die eine etwas mehr als die Hälfte des Parlaments spielt ritualgerecht die Fingerheber und Abnicker für die Regierung und bezeichnet die anderen als Vollpfosten*innen und Taugenichtse*innen; die andere etwas weniger als die Hälfte spielt ritualgerecht die Opposition, indem sie alles niedertrampelt, was die Regierung sagt und tut, und diese als Vollpfosten*innen und Taugenichtse*innen bezeichnet - und nach der nächsten Wahl sind die spinnefeind Gewesenen plötzlich ein Herz und eine Seele und koalieren miteinander.
Die Parteien ignorieren euch natürlich notorisch und versuchen, euch außen vor zu halten, weil sie euch geringschätzen und verachten und nur als lästig empfinden, wie die eine 1989. Die wollen verbissen unterschlagen, dass Ihr die Macht habt, das Gemeinwesen zu zerstören und unser zivilisatorisches Niveau in einen fauligen, stinkenden Morast hinabzuzerren. Statt neidlos anzuerkennen, dass allein Ihr, das Volk, das Debakel, welches am 5. Februar seinen satirischen Höhepunkt erreicht hat, am 27. Oktober verursachtet, schieben sie euch beiseite und stattdessen die Schuld einander in die Schuhe, kartätschen sich gegenseitig in Grund und Boden und lecken ihre Wunden. Tatsächlich aber seid ausschließlich Ihr es, die diesen Schlamassel vollbracht haben, und dafür gebührt euch alle Wertschätzung und Hochachtung: 54 % eurer Wähler haben für antidemokratische Parteien gestimmt und damit das System von innen gesprengt. Die Parteien in ihrem Unentbehrlichkeits- und Allmachtswahn aber glauben allen Ernstes, sie könnten auch diese aussichtslos verkorkste Situation meistern und in ihre gewohnten Bahnen lenken - sancta simplicitas. Allen voran die absaufenden Möchtegern-Minderheitsregenten, die voll kindlichen Eifers und ganz dolle stolz das Ergebnis der Grundschul-Projektwoche „Wir basteln uns einen Koalitionsvertrag“ präsentierten und erwarteten, für voll genommen zu werden, nur weil sie den Mund so voll nehmen, die altklugen Lauser. Der Mann von den Grünen hatte sich ein lustiges Mützchen aufgesetzt (einer muss den Hut aufhaben) und sah aus, wie der kleine Moritz sich einen Grünen vorstellt. Die Frau von der PDS sah aus, wie der kleine Moritz sich eine PDS-Tussi vorstellt. Der Mann von der SPD sah nach gar nichts aus. Ei wie fein, ja wo sind sie denn, unsere goldigen Koalitionäre, dutzidutzi!
Ist von euch, dem Volk, auch nur mit einem einzigen Wort die Rede in der jetzigen Schlammschlacht und Verlautbarungsorgie, diesem wollüstigen Jahrmarkt der Eitelkeiten? Natürlich nicht. Oder doch, ein bisschen schon: Die Menschen könnten das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie verlieren, wird düster geunkt. Hach Gottchen, wie fürchterbar: Es wird noch so weit kommen, dass alle Thüringer, diese zartbesaiteten Sensibelchen, unsere armen Hascherl, aus lauter Vertrauensverlust krampfhaften Schluckauf bekommen und zu Bettnässern werden. Ohnehin haben bereits 54 % machtvoll demonstriert, dass sie auf die Demokratie pfeifen.
Auch die Medien ergehen sich in Ablenkungsmanövern: So paraphrasiert die Frankfurter Rundschau Frank-Walter Steinmeiers Ansicht, wir verstünden die Vergangenheit besser als die Gegenwart, und liefert ein Glanzstück journalistischer Dünnbrettbohrerei im untersten Socialmediaformat: Fast auf den Tag genau 87 Jahre zuvor sei „ein gewisser“ (wie neckisch) Adolf Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler gekürt worden. Diese Gleichsetzung passt zwar hinten und vorne nicht, aber egal - Hauptsache, der linke Stammtisch kann sich auf die Schenkel hauen und zustimmend rülpsen. Herr Lehrer, ich weiß auch was: Auf den Tag genau 86 Jahre und 11 Monate zuvor wählten 56 % KPD und NSDAP.
Ach ja, Ihr 54%igen, wie recht Ihr doch habt: Früher (und noch früher) war alles besser. Vor über 50 Jahren bezahlte die PDS, als sie noch SED hieß und sich nicht mit so Scheißwahlen rumärgern musste, Beate Klarsfeld dafür, dass sie Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit öffentlich ohrfeigte. Heute hingegen speist die PDS-Frau uns damit ab, Thomas Kemmerich den Genosse Bodo zugedachten Blumenstrauß vor die Füße zu schmeißen - les fleurs du mal.
Lasst eure historische Leistung nicht von den missgünstigen Parteien kleinreden, schmälern und verwässern. Lasst euch dieses Verdienst nicht von den Parteien entreißen, behaltet das Heft in der Hand! Ihr allein aus eigener Kraft habt diese größte politische Katastrophe in der Geschichte der Bundesrepublik angerichtet, und niemand kann etwas dagegen ausrichten, niemand sie beheben und wieder geradebiegen. Wie vor 30 Jahren habt ihr neuerlich Geschichte gemacht: Parlamentarismus als Operette - wenn RTLII euch die Rechte abkauft, dann seid nicht zu bescheiden. Womöglich ist das Ganze ohnehin nur eine Hollywood-Klamotte: „Kemmerich“ ist vielleicht die Verballhornung von „Emmerich“, der Master of Desaster. Alle Welt wartet auf die Fortsetzung von „2012“ - nun haben wir sie: 2020. Lasst euch nicht zu unmündigen, wirkungslosen Dummbeuteln degradieren, die der Partei-Führung bedürfen. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“? Quatsch mit Soße, hätten sie wohl gern. Nein, sondern „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ - darauf kann man einen lassen in Thüringen.
Und wenn das den Parteien nicht passt, wäre es da nicht doch einfacher, sie lösten das Volk auf und wählten ein anderes?
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(16.2.2020)
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