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14.7.2019

Großer Zopfenstreich

Vergiss es, Gretchen! Ich weiß nicht, was es bedeuten soll, dass mir jetzt, den Tod vor Augen, dieses Lied aus alten Zeiten nicht aus dem Sinn kommt: „My Heart crawls off“ von Two Nice Girls. Deren ätherischer Harmoniegesang ist mir, bereits in den Abgrund starrend, das einzig verbliebene, wehmütig verwehende Band zu der Welt, wie sie noch vor Kurzem bestanden hat, die aber schon unendlich lang vergangen zu sein scheint und nun für immer untergeht. Die Sängerin beklagt, dass ihre Freundin sie verlassen hat, und jemand will sie trösten: „Just forget it, Gretchen!“ Doch für uns ist jeder Trost zu spät, und bald wird alles vergessen sein: die Erde, die Menschen - und die Zöpfe.

Es gilt als sicher, dass die globale Katastrophe in Schweden ihren Ausgang nahm, höchstwahrscheinlich in Stockholm. Irgendein Etwas gibt es dort, eine fremdartige, jeglichen irdischen Kategorien, jedweden Vorstellungen und Begriffen entzogene Daseinsform, welche der alles vernichtenden Zöpfe Ursprung ist. Erstes Opfer war das schwedische Parlament: Es war an einem Freitag, vormittags, die Mitglieder des Reichstags dösten entspannt vor sich, als sie von urplötzlich auftauchenden monströsen Zöpfen überwältigt wurden. Die Abgeordneten hatten nicht die geringste Chance, innerhalb weniger Minuten waren sie dahingerafft und das Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Hier zeigte sich bereits jenes rätselhafte Phänomen, das sich inzwischen auf der ganzen Welt zahllose Male wiederholt hat: Das grässliche Röcheln der Sterbenden in ihren letzten Atemzügen klingt wie „Gr-Gr-Gr“, als wollten sie noch etwas sagen, aber vermögen es nicht mehr.

Das war der Anfang vom Ende. In unfassbarer Geschwindigkeit und Vehemenz haben sich die Zöpfe seitdem über den ganzen Erdball ausgebreitet. Sie vermehren sich rasend schnell durch Jungfernzeugung, was Fachleute*innen als Beweis dafür erachten, dass die - höchstwahrscheinlich außerirdische - Wesenheit, der die Zöpfe entstammen, gänzlich geschlechtslos ist. Nichts und niemand ist in der Lage, ihnen Einhalt zu gebieten. Binnen kürzester Zeit hat die Menschheit die Kontrolle über den Planeten, ihre Zivilisation, über sich selbst verloren. Sie ist nur noch Objekt, kann nichts mehr steuern, ist der Zopf-Armada hilflos ausgeliefert, deren irrsinniges, verheerendes Wüten keinen Menschen verschont, jeden bestialisch niedermetzelt und alles systematisch verwüstet: Versorgungskabel aller Art und Kanalisation, Öl-Pipelines und Nord Stream existieren nicht mehr; keine Elektrizität, kein Wasser, kein Erdgas. Behörden, Betriebe, Krankenversorgung zerstört. Weder Telefon noch Internet funktionieren; Facebook, Instagram und WhatsApp haben mal wieder Probleme (was kein Verlust ist), aber diesmal für ewig. Die Zöpfe reißen Brücken ein, bringen Hochhäuser zum Einsturz, Tunnel und U-Bahn-Schächte werden von Zopfballungen unpassierbar gemacht und die Menschen darin eingeschlossen, sodass sie elendig ersticken, verhungern und verdursten. In Zopfberge rasende Autos verursachen Serienkarambolagen. Bäume werden entwurzelt, erschlagen Menschen, blockieren die Straßen und zertrümmern Häuser. Die Zöpfe zerren startende und landende Flugzeuge zu Boden und lassen sie zerschellen. Schiffe, vor allem Aida, Queen Mary 2 & Co., werden zum Kentern gebracht und gehen mit Mann*in und Maus*in unter: „Gr-Gr-(blubblub)-Gr!“ Ob Braunkohle, Windräder, Atomkraftwerke, Wasserenergie, diese Fragen stellen sich nicht mehr, alles dahin, sämtliche Anlagen geschleift.

In den infernalischen Gestank unübersehbarer Mengen verwesender Leichen, die schon längst nicht mehr entsorgt werden können, mischen sich die ekelerregenden Ausdünstungen von Exkrementen und Urin, die allüberall ausgeschieden werden - denn Toiletten sind der unsicherste Ort der Welt. Mannigfach hat sich dieser Vorgang weltweit zugetragen: Ein*e Mensch*in hockt auf der Klobrille, plötzlich schießt ein Zopf aus der Schüssel, dringt in den Anus ein (soweit vorhanden alternativ auch in die Vagina), bohrt sich durch den gesamten Rumpf, kommt aus dem Mund zum Vorschein und zerrt das verzweifelt nach Luft ringende Opfer („Gr-Gr-Gr“) hinab in die Kanalisation. Wer das erleidet, hat es verkackt. Unbelehrbare Stehpinkler unter den Männern glaubten, kraft ihrer unbeugsamen Virilität gegen derlei Attacken gefeit zu sein - eine fatale Fehleinschätzung: Kaum baumelt das beste Stück außerhalb der Hose, schnellt ein Zopf hervor und packt gnadenlos zu. Der Kerl ist noch da. Aber unvollständig.

Viele Menschen haben unabhängig voneinander glaubhaft berichtet, dass ihnen schon einige Zeit zuvor, etwa seit Ende August 2018, in bizarren Albträumen die Zöpfe erschienen sind. Vor allem Freitagnacht. Mir auch. Irgendwelche Spaßvögel mit Hang zu sarkastischem Galgenhumor haben für das massenmörderische Unwesen die Bezeichnungen Tsopf-Zunami und Blutgretsche geprägt. Man muss es wohl sportlich nehmen - auch wenn wir dieses Endspiel für alle Zukunft verloren haben. Experten vermuten, dass die Zöpfe, nachdem sie alles Leben auf dem Planeten ausgelöscht haben, zum Erdmittelpunkt vorstoßen und den Globus von innen zersprengen werden. Kein Staubkörnchen wird von der kosmischen Kuriosität übrig bleiben. Wer wird sich an uns erinnern?

Sämtliche Versuche, sich der Mutter aller Zöpfe, dem „Ding aus einer anderen Welt“, wie es gemeinhin genannt wird, zu nähern, sind auf desaströse Weise gescheitert. Ob Wissenschaftler, Paparazzi, Kammerjäger, Polizei, Psychopathologen oder Militär: Sofern sie überhaupt lebend zurückkehren, sind sie total in Panik geraten, in ihren entsetzt aufgerissenen Augen scheint sich zu spiegeln, dass sie einem Ungeheuer begegnet sind. Dem Wahnsinn verfallen, faseln sie wirres Zeug von Schwulstreik, Klimakterium und „Friday 's no Future“ - als wären sie einer Gehirnwäsche unterzogen worden.

Wie viele Exemplare der Gattung Mensch noch am Leben sind - ich weiß es nicht. Nur wenige können es sein. Niemand geht mehr aus dem Haus, jeder*in wartet still für sich, schutzlos und einsam auf das unausweichliche Ende, das aus heiterem Himmel hereinbrechen wird. So sitze ich hier mit meinem letzten Kugelschreiber, den letzten Blatt Papier, PC ist schon lange nicht mehr, kein Strom, offline. Meine Nahrungsvorräte sind nahezu aufgebraucht. Hatten die Prepper also doch recht? Aber denen ist es auch nicht besser ergangen. Statt Konservenhalden und Schießgerät hätten sie lieber Haarentfernungsmittel bunkern sollen.

Doch was ist das? Plötzlich splittert das Fenster, die Tür zerbirst ... oh nein, es sind die Zöpfe! Bitte nicht ... sie umschlingen meinen Körper, meine Gurgel, sie erwürgen mich, ich kriege keine Luft mehr ... Gr-Gr-Gr ...

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(14.7.2019)

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