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10.2.2011 (ergänzt 31.8.2022)

Deutschland schafft an!

Des Herrn Sarrazins Unkenrufen zum Trotz gibt es doch Hoffnung: Während ganz Germanien unter dem Joch asozialer Ausländer dem Untergang entgegenwankt, gibt es mittendrin ein kuscheliges Nest, in dem die deutsche Welt noch heile ist: das Kapazitätssystem. Hier herrscht bis heute der piefige Geist der frühen Siebziger des vorigen Jahrhunderts, als es noch keine Migranten gab, sondern nur Gastarbeiter, und als das Bundesverfassungsgericht das berüchtigte Urteil vom 18.8.1972 verübte: Das macht uns keiner nach, solch einen Irrsinn schaffen nur wir Deutschen! Und deutsch ist es geblieben, das Kapazitätssystem, bis auf den heutigen Tag: Kein einziger unter den Kapazitätsanwälten ist Ausländer, sondern alle sind natürlich Deutsche. Und ihre Mandanten? Klingt zwar wie Migranten, aber selbstredend sind es ausschließlich Deutsche, denn den Ausländern ist es natürlich von vornherein untersagt, sich einen Studienplatz zu erschleichen. Darauf können wir alle stolz sein: Wer von diesen genetisch prädisponierten Dumpfbacken wäre auch nur annähernd so schlau, mit Nichtstun ein Schweinegeld zu verdienen, wie unsere Kapazitätsanwälte, und das seit 5 Jahrzehnten? Und wer von denen wäre hirntechnisch in der Lage, statt ein gutes Abitur zu machen, sich mit Nichtstun einen Studienplatz zu erschleichen, so wie unsere deutschen Buben und Mädel? Ganz abgesehen von den Kosten! Dafür reicht Hartz IV nämlich gar nicht.

Einen kleinen, aber erhellenden Einblick in dieses letzte Refugium des wahren Deutschtums vergönnt uns ein Bericht, der am 19.8. und 24.10.2008 in den Tagesthemen gesendet wurde: Darin geht es um 2 junge Leute (deutsch, blond, Eltern Zahnärzte), die von einem x-beliebigen Kapazitätsanwalt vertreten werden, den wir mal „OM Notar“ nennen wollen. OM Notar ist der Typ, der auf der Webseite www.naumann-law.de (inzwischen uni-recht.de) so verbiestert unter seiner Föhnfrisur hervorglupscht. Unabhängig von der Frage, was „law“ bedeutet (vielleicht „lustige Anwalts-Webseite“), beweisen diese beiden aufstrebenden jungen Leute mit ihrem insuffizienten Abitur 3 Theorien: a) Die Wirklichkeit übertrifft jede Karikatur. b) Es ist die Lieblingsbeschäftigung der gehobenen Mittelschicht, Staat und Gesellschaft auszuplündern. c) Ein Zwilling kommt selten allein. Weiter heißt es in dem Bericht, OM Notar habe bislang mehr als 7.000 (in Worten: siebentausend) „Klienten“ (na ja, manche Journalisten sind Dünnbrettbohrer) vertreten. Im Folgenden soll dieses leuchtende Beispiel deutscher Leistungsfähigkeit, zu der natürlich kein Einwanderer in der Lage wäre, eingehend analysiert werden, um möglichst viele andere Deutsche zur Nachahmung anzuregen. 3 Faktoren spielen eine Rolle: a) die Anzahl der Plünderungswellen pro Jahr, b) die Anzahl der Hochschulklinika, c) die Zeitdauer seit Aufnahme des Geschäftsbetriebs in der Kapazitäts-Goldgrube. Faktor a) ist konstant und eindeutig: Es gibt 2 Plünderungswellen p. a., weil 2 Semester. Bleibt eine Größe von 3.500, die aus den aufzulösenden Faktoren b) und c) besteht. Es ergeben sich alternativ die beiden folgenden Rechenmodelle:

Modell 1: Anzahl der Hochschulklinika

Angenommen, OM Notar nahm den Geschäftsbetrieb in der Kapazitäts-Goldgrube vor 10 Jahren auf. Würde er in jeder Plünderungswelle nur einen einzigen Mandanten je Hochschulklinikum vertreten, hieße dies, dass es 350 (in Worten: dreihundertfünfzig) Hochschulklinika in Deutschland gäbe. Hierdurch würde Deutschland zwar im OECD-Bildungsbericht drastisch besser abschneiden, aber dennoch: Diese Zahl dürfte auch Uneingeweihten ein bisschen zu hoch erscheinen. In der Tat: Es gibt nur ein Zehntel, nämlich 35 Hochschulklinika in Deutschland. Somit scheidet Modell 1 als Erklärung aus.

Modell 2: Zeitdauer seit Aufnahme des Geschäftsbetriebs

Wie wir in Modell 1 herausgearbeitet haben, gibt es 35 Hochschulklinika. Würde OM Notar in jeder Plünderungswelle nur einen einzigen Mandanten je Hochschulklinikum vertreten, hieße dies, dass er bereits vor 100 Jahren das doofe Arbeiten an den Nagel gehängt hätte und stattdessen Kapazitätsanwalt geworden wäre. Dies dürfte prima facie eher unwahrscheinlich sein: Zum einen ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem das Goldgräberzeitalter eingeläutet wurde, erst 50 Jahre her. Zum anderen hätte OM Notar sich nicht annähernd 100 Jahre lang mit solch unstandesgemäßen Pfründen begnügt, wie sie ein einziger Mandant je Halbjahr und Hochschulklinikum einbringen würde. Da sind die Kosten für die Annoncen in der „ZVS-Info“ und für seine flashige Webseite ja schon höher. Und nicht zuletzt: Die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern in Deutschland beträgt - selbst bei optimierter Befriedigung der Geldgier - nur 76,9 Jahre. Somit scheidet auch Modell 2 als Erklärung aus.

Wie also erklärt sich die Zahl von 7.000? Des Rätsels Lösung ist schlichtweg eine Kombination aus Modell 1 und 2: Angenommen, OM Notar nahm den Geschäftsbetrieb vor 10 Jahren auf. Dann hat er bislang 20 Plünderungswellen durchgezogen. Bei 35 Hochschulklinika heißt dies, dass er je Semester und Hochschule durchschnittlich 10 Mandanten vertritt. Nanu, ist doch gar nicht so viel, das soll ein Vorbild deutscher Leistungsfähigkeit sein? Vorsicht, Denkfehler: In dem Tagesthemen-Bericht ist von 7.000 Mandanten die Rede, nicht von Fällen. So haben denn das in dem Bericht vorgestellte Bessere-Leute-Bübchen und seine Schwester gleich 20 Hochschulklinika aus- und heimgesucht. Legt man diese Abschussquote für sämtliche Mandanten zugrunde, dann handelt es sich um 140.000 (in Worten: mir fehlen die Worte!) Fälle. Demnach dürfte OM Notar je Semester und Hochschule durchschnittlich 200 Mandanten vertreten. Chapeau!

Daraus lernen wir: Deutsch sein heißt, eine Sache um des Geldes willen tun. Und: Deutschland den faulen Deutschen!

PS: Die Webadresse www.naumann-law.de existiert nicht mehr, sondern wird weitergeleitet zu uni-recht.de. Der Herr Rechtsanwalt ist offensichtlich aus dem Kapazitätsgeschäft ausgestiegen und hat neue zahlungskräftige Mandatierende_*:Innende (d/w/m) gefunden: Hochschulen selbst, denen er seine unentbehrliche Mühewaltung andient („Recht für Universitäten, Hochschulen und Bildungsanbieter“). Es ist zu befürchten, dass tatsächlich Hochschulen, die dieser Mann jahrelang ausgenommen hat wie eine Weihnachtsgans, nun mit ihm zusammenarbeiten. Würdeloser geht es nicht.

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(31.8.2022)