Akte X
17.12.2015
Sympathischer als z. B. der faschistoid dreinblickende Herrenmensch in Chemnitz, die Karl-Marx-Büste, ist sie allemal: die Kreuzung aus Kleiner Meerjungfrau und Manneken Pis, das Gänseliesel. Aber sind drei dumme Gänse und eine magersüchtige Halbwüchsige mit unentwegt gesenktem Smombie-Blick auf Dauer als Wahrzeichen für die Universitätsstadt Göttingen wirklich geeignet? Nein, sagten sich einige gut betuchte Lokalpatrioten und beschlossen, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Ersatz für das Gänseliesel zu schaffen und postum grausame Rache dafür zu üben, dass die Stadt, die Wissen schafft, nicht auch Märchen-Hauptstadt der Welt geworden ist, sondern stattdessen irgend so ein Kaff im Ausland, na wie heißt es doch gleich: Kassel, damals zum Kurfürstentum Hessen gehörend.
Bitter genug, dass Jacob und Wilhelm Grimm die erste und zweite Fassung ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ (gegen deren weltweite Gesamtauflage „Das Kapital“ nur Peanuts ist) bereits in ihrer Kasseler Zeit veröffentlicht hatten. Aber ein beträchtliches, vielleicht gar das größte Stück vom Grimm-Kuchen hätte Göttingen doch noch abbekommen können, immerhin erscheint die dritte Fassung der Märchensammlung 1837 in der Göttinger Zeit. Während der folgenden 20 Jahre bringen die Grimms weitere überarbeitete Versionen heraus. All dies hätte in Göttingen geschehen können, Göttingen wäre das Weimar der Brüder Grimm geworden, war drauf und dran, einen ewigen Platz in der Geschichte der Weltliteratur einzunehmen. Doch 1837 macht einer im Handstreich alles zunichte: Ernst August, erst einige Monate zuvor mit 66 versehentlich im Nachrückverfahren Herrscher des Königreichs Hannover geworden, ein dahergelaufener Despot, der eigentlich Brite ist und Deutsch als Fremdsprache betrachtet, mutiert zum Isegrim und will sich auf seine alten Tage noch mal als Alphamännchen aufspielen: Weil die Grimms seine Rolle als allmächtiger Rudelführer nicht in Demutshaltung hinnehmen, sondern sich ihm widersetzen, statt mit den Welfen zu heulen, verjagt er sie spornstreichs aus seinem Revier - und natürlich gehen sie wieder nach Kassel, das sich seitdem die Grimms mit Haut und Haaren einverleibt hat und damit vor aller Welt prahlt und protzt. Als würde die documenta nicht ausreichen! Wären die beiden nicht vertrieben worden, hätte stattdessen Göttingen das Mekka deutscher Märchentradition werden können (wer es nicht bemerkt hat: Das war gerade echt voll krass Multileitkulti - guckst du!).
Doch jetzt kriegt der Autokrat im Nachhinein eins reingewürgt: Am Göttinger Bahnhof befindet sich seit Kurzem eine Nachbildung von Ernst Augusts Reiterstandbild am hannoverschen Hauptbahnhof, und zwar allein der Sockel - ohne Gaul und König. Letzteren hat nun endlich die gerechte Strafe ereilt, indem er symbolisch von seinem hohen Ross heruntergeholt worden ist. Aber wo ist das Ross? Was hat das unschuldige Tier damit zu tun, warum ist die geschundene Kreatur, die doch auch nur Opfer royaler Willkür war, mit in Sippenhaft genommen worden? Hierfür muss die Künstlerin noch eine plausible Erklärung abgeben. Sehr viel aussagekräftiger und Herz und Hirn anrührender wäre es doch, wenn das Pferd weiterhin anwesend wäre, in heroischer Pose sich aufbäumend, ein Sinnbild dafür, wie alle Geknechteten und Erniedrigten dieser Erde aufbegehren und sich ihrer Peiniger entledigen. Oder reichte schlichtweg das Geld nicht für was drauf? Immerhin beläuft sich der Sockelbetrag auf 450.000 bis 500.000 €, nicht schlecht für nur 40 qbm umbauten Raum - für das Geld bekommt man auch ein schlüsselfertiges Einfamilienhaus im oberen Preissegment (ohne Grundstück).
Die wenig spektakuläre Enthüllung des neuen Denkmals, bei der keine Häppchen gereicht wurden und statt Tommy Gottschalk nur ein Kunsthistoriker sich als Alleinunterhalter abmühte, war nicht dazu angetan, dem Gänseliesel aus dem Stand den Rang abzulaufen. Deshalb hatten die Anstifter höchst vorsorglich einen ganz besonderen Trumpf in der Hinterhand, um einen öffentlichkeitswirksamen Hype um den Sockel, dessen einziger Nutzen darin besteht, dass Hunde daran das Bein heben und Mitglieder der Primatenpartei ihn vollkritzeln, vom Zaun zu brechen: In der eingemeißelten Jahreszahl MDCCCXXXVII (1837) hatten sie ein X entfallen lassen, sodass es 1827 hieß. Dies lancierten sie an die Medien, woraufhin der völlig belanglose Tippfehler, der eigentlich nicht der Rede wert war, prompt zum Stadtgespräch aufgeblasen worden ist. Nun kennt alle Welt den Klotz, um den sich anderenfalls niemand scheren würde, weil er aussieht wie ein verwaister Brückenpfeiler einer vom Bund der Steuerzahler angeprangerten Bauruine. Diese Reklame-Fuzzis haben es wirklich drauf.
Wenn über die großen Schicksalsfragen der Menschheit palavert wird, darf einer nicht fehlen: Patrick Humke, Galionsfigur der Göttinger PDS. Nach seiner - naturgemäß völlig unmaßgeblichen - Meinung zum X-Fall gefragt, zitiert er Kurt Tucholsky: „Was darf Satire? Alles!“ Und was darf die PDS? Nichts! Obwohl sie seit 25 Jahren in Westdeutschland permanente Realsatire ist. Eine Episode hat Humke beigesteuert: Sein aufhaltsamer Aufstieg begann 2008, als die PDS es nach 18 Jahren (boah ey!) erstmals mit Ach und Krach schaffte, in den niedersächsischen Landtag zu gelangen - und er war dabei. Wie oft, wenn er (natürlich erster Klasse) nach Hannover fuhr, um das Volk zu vertreten, mochte er sich beim Anblick Ernst Augusts gewünscht haben, dereinst auch einmal ganz oben zu sein, des Niedersachsenrosses Zügel fest im Griff und allergnädigst geruhend, seiner treu ergebenen Untertanen Huldigungen entgegenzunehmen. Ja, ein Diktator vom Schlage Ernst Augusts, der jede Opposition rücksichtslos unterdrückte, ist so recht nach dem Geschmack der PDS. Humke träumte davon, dass die PDS und ihre Helfershelfer SPD und Grüne die nächste Landesregierung bilden würden, mit einer Ministerin Sahra Wagenknecht als Kommunistischer Plattform, über die Barrikaden den Klassenfeind niedermetzelnd, Marianne aus dem Eldorado Thüringen - so nah und doch so unerreichbar fern. Er im Kielwasser vielleicht erst mal Staatssekretär und dann im Lauf der Zeit - wer weiß ... Doch 2013 zerplatzten alle Fantastereien mit einem großen Knall: Das untreue Volk kegelte die PDS im hohen Bogen wieder aus dem Landtag hinaus. All das ist schon längst Vergangenheit. Damals war er noch Herr Wichtig-Humke-Focks, jetzt ist er nur noch ein vom Sockel gestürzter kleiner Humke - Ernst Augusts unbedeutender Leidens-Genosse. Sollte er sich mangels Landtagsmandats unausgelastet fühlen, könnte er sich als Coca-Cola-Weihnachtsgrufti nützlich machen (die passende Statur hat er ja) und wäre gleichzeitig die Personifizierung der PDS: knallrot, steinalt, mit so einem Bart, nur Naivlinge glauben daran, und sein Schlachtruf klingt wie die Meinung der Westdeutschen über die PDS: Ho-ho-ho! Merry Xmas, Humke!
Mit Xen, die keine sind, kennt die PDS sich bestens aus: Man denke nur an den legendären X. Parteitag der SED im Jahr 1981, der von der DDR-Bevölkerung hinter vorgehaltener Hand hämisch der „xte Parteitag“ genannt wurde. Und seit 25 Jahren versucht die PDS gleichermaßen verbissen wie vergeblich, den Westdeutschen ein X für ein U vorzumachen. Dennoch weigern sich die Westdeutschen beharrlich, auf den Stimmzetteln massenhaft Xe für die PDS zu setzen. PDSlern dürfte der Klotz - ungeschlacht, anmaßend, abweisend, niederdrückend, leblos - wehmütig-heimelige Empfindungen hervorrufen, mögen sie sich doch an die Trutzburg ihrer Ahnendynastie derer von und zu Betonkopf (Walter I., der Unfreimaurer; Erich II., der Spießige; Egon das Letzte, der Loser) erinnert fühlen: die Mauer. So kann der Klotz auch als Manifestation obrigkeitlicher, antidemokratischer Kontinuität gedeutet werden, welche das missgünstige Schicksal Göttingen auferlegt hat: Erst wurden die Grimms und ihre Mitstreiter (die Göttinger Sieben) vertrieben, dann fanden hier zwei PDS-Bundesparteitage statt, was nur ein kläglicher Ausgleich für den Verlust der Grimms war, obwohl auch die PDSler begnadete Märchenerzähler sind.
Aus Pappmaschee geformt, beim Karnevalsumzug auf einem Themenwagen einen aktuellen, allgemein bekannten Sachverhalt darstellend, wäre der Sockel ein brillanter Jux mit einer Verfallszeit von wenigen Stunden. In 160 Tonnen Beton gegossen, mit dem Anspruch, ein Kunstwerk zu sein und wie der hypertrophe hannoversche Zinnsoldat 150 Jahre und länger, gar „für die Ewigkeit“ dort stehen zu sollen, ist der Klotzbrocken jedoch eine Zumutung, wodurch Göttingen sich dauerhaft zum Gespött macht. Statt dieses Denkmals mit sich selbst eliminierender, weil umständlicher Erklärung bedürfender Pointe, das allein der Eitelkeit einer Künstlerin und ihrer unbekannten Finanziers dient, deren Anonymität die Sache umso alberner und unappetitlicher macht, sollte Göttingen ein wirkliches republikanisches Zeichen setzen:
Seit 31 Jahren bin ich Göttinger und Mitarbeiter der Universität/Universitätsmedizin, und seit 31 Jahren winde ich mich peinlichst berührt, so oft ich die Bezeichnung „Georg-August“-Universität lese (humorig ist immerhin der sog. historische Name „Georgia Augusta“, der sich anhört wie ein Vaterländischer Frauenverein von 1890). Who the fuck is Georg August? Das war Ernst Augusts Uropa, Herrscher des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg (aus dem später das Königreich Hannover wurde), ein x-beliebiger Duodezfürst, der keinerlei Möglichkeit zur Identifikation bietet. Man braucht nur diesen dumpf glotzenden Altvater Bräsig auf dem Universitätssiegel zu sehen, dann vergeht einem schon alles. Es ist - gelinde gesagt - etwas inkonsequent, dass die Universität das Andenken der Göttinger Sieben hochhält und sich in ihrem Ruhme sonnt, gleichzeitig aber den Namen eines Mitglieds der Herrschersippe trägt, deren Opfer die Göttinger Sieben wurden. Ernst August war doch kein tragischer Einzelfall, sondern ein Prototyp: Wie er vorging, war systemimmanent absolut folgerichtig. Sein kriegslüsterner Urgroßvater hätte genauso gehandelt, hätte die Delinquenten vielleicht sogar hinrichten lassen. Nach solchem Fürsten- und Königsgesindel will die Universität Göttingen benannt sein? Doch nicht im Ernst August! Daher möchte ich die verflxte Denkmalaise zum Anlass nehmen, um meinen lang gehegten Wunsch an die Öffentlichkeit zu tragen:
Ein neuer Name für unsere Uni!
Ein herausragender Wissenschaftler (m/w), möglichst weltberühmt und zugleich ein gesellschaftliches Vorbild - da muss sich doch wer finden lassen in 278 Jahren Universitätsgeschichte. Die Universität meiner alten Heimat Frankfurt am Main hieß ursprünglich ganz ähnlich wie die Göttinger: „Königliche Universität“, gemeint war der preußische König Wilhelm II., im Nebenberuf Kaiser, der Deutschland im Jahr der Universitätsgründung in den ersten Weltkrieg marschieren ließ. 1932 warf die Universität diese unerquickliche historische Erblast über Bord und gab sich einen neuen Namen: Johann Wolfgang Goethe-Universität. Auch die Universität in Hannover ist ein leuchtendes Vorbild: Sie begann als „Königliche Technische Hochschule“ (gemeint war Wilhelm I, der sich dadurch hervortat, dass er demokratische Bewegungen zusammenschießen ließ, Großvater und Vorvorgänger der o. g. Nr. II), und nach mehreren Zwischenstationen erhielt sie 2006 ihren jetzigen Namen: Gottfried Wilhelm Leibniz Universität. (Wenn ich ein Scherzkeks wäre, würde ich jetzt sagen: Das war nicht der Erfinder der Prinzenrolle. Prinzen, die aus der Rolle fallen, gibt es jedoch bis heutigentags.) Und die Moral von der Geschicht: Geht nicht, gibt's nicht!
Erste Befürworterin meines Anliegens müsste übrigens die PDS sein, denn sie ist ein ausgewiesenes Exzellenzcluster auf dem Gebiet der multiplen Umbenennung: KPD, SED, SED-PDS, PDS, Die Linke.PDS, Die Linke), allerdings nicht aus ehrenwerten Motiven, sondern allein, um das Volk für dumm zu verkaufen, was ihr jedoch in Westdeutschland nicht recht gelingen will. So gilt für die westdeutsche PDS im trüben Herbst 2015 unverändert dasselbe wie für die SED im grandiosen Herbst 1989: Ein Satz mit X - das war wohl nix!
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(21.12.2015)
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