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12.10.2017

Reforminator

Der Große Steuer-Mann

„Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!“ Ja, schon Jesus Salbungsvoll wusste um die Bedeutung eines straff durchorganisierten Abgaben-Managements. Grund genug für den evangelischen Sektor der staatlich subventionierten deutschen Religionsbranche, in diesem Jahr ein gigantisches Jubiläum zu zelebrieren: 500 Jahre Steuerreform. Und wir alle dürfen dabei sein (ob wir wollen oder nicht). Ein junger, aufstrebender Mitarbeiter der Steuerverwaltung namens Martin Luther, hochmotiviert und voll innovatorischen Elans, hämmerte am 31. Oktober 1517 95 Thesen zur Reform der klerikalen Einnahmeerhebung an die Tür des Finanzamtes zu Wittenberge. In These 47 brachte er das grundlegende Problem auf den Punkt: Es kann nicht angehen, dass es dem Belieben des gemeinen Volkes überlassen bleibt, ob es die Kirche finanziert oder nicht: „Der Kauf von Ablass ist eine freiwillige Angelegenheit, nicht geboten.“ So konnte es nicht weitergehen, eine dauerhafte Zahlungsverpflichtung musste eingeführt werden, aber wie es halt so ist im öffentlichen Dienst: Neuerungen brauchen lange Zeit. Daher war es Luther nicht vergönnt, der Vollendung seines Lebenswerks teilhaftig zu werden. Erst im Jahr 1875 war es dann soweit: Im evangelischen Hessen-Nassau wurde sie endlich eingeführt - die Kirchensteuer. Auch die katholische Kirche musste sich sodann höchst widerwillig dem staatlichen Druck beu­gen und sich an dem verhassten, gottlosen Kirchensteuerunwesen beteiligen.

Luthers Vorschläge stießen zunächst auf massive Ablehnung bei sturen Betonköpfen, die nicht auf den Ablass verzichten wollten (erster Verwaltungsgrundsatz: Das haben wir doch schon immer so gemacht), andererseits fand er mehr und mehr begeisterte Anhänger, und seine Ideen verbreiteten sich in Windeseile wie ein Lauffeuer - ein echtes Erfolgsmodell. Da kam dem Martin plötzlich eine Eingebung: „Hoppla, und was habe ich davon? Ich will auch ein dickes Stück vom großen Kuchen bekommen und ordentlich abkassieren!“ Ihm war klar, dass er als abhängig Beschäftigter, zumal im öffentlichen Dienst, niemals auf einen grünen Zweig kommen würde. Also beschloss er, den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen: Eine Firma gründen und auf eigene Rechnung Kirchensteuer eintreiben.

Außer Thesen nichts gewesen

Hierbei war ihm sein Hobby von Nutzen: Religion. Er hatte nämlich in den 95 Thesen nicht allein steuerliche, sondern auch Glaubens- und kirchenpolitische Themen angesprochen. Vor allem wandte er sich dagegen, dass der Papst mittels Ablass in die von Gott verhängte höllische Verdammnis hineinpfuschte: „Der Papst will und kann keine Strafen erlassen, außer solchen, die er auf Grund seiner eigenen Entscheidung oder der kirchlichen Satzungen auferlegt hat“ (These 5). Indem die Hinterbliebenen mittels Ablass die Seelen ihrer lieben Verstorbenen aus dem Fegefeuer befreien, beschneiden sie vielleicht deren Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (wahrscheinlich Masochisten und Pyromanen): „Wer weiß denn, ob alle Seelen im Fegefeuer losgekauft werden wollen, wie es beispielsweise beim hei­ligen Severin und Paschalis nicht der Fall gewesen sein soll“ (These 29). Den Papst nahm er in Schutz nach dem Muster “Wenn das der Führer wüsste“: „Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablassprediger wüsste, sähe er lieber die Peterskirche in Asche sinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde“ (These 50). Zudem fürchtete Luther, durch den Ablass werde die Autorität des Papstes untergraben: „Diese freche Ablasspredigt macht es auch gelehrten Männern nicht leicht, das Ansehen des Papstes vor böswilliger Kritik oder sogar vor spitzfindigen Fragen der Laien zu schützen“ (These 81). Das gemeine Volk hat gefälligst untertänig sein Dasein und seinen Tod in Buße, Erniedrigung, Qual und Selbsthass zu verbringen: „[...] eine innere Buße, ja eine solche wäre gar keine, wenn sie nicht nach außen mancherlei Werke zur Abtötung des Fleisches bewirkte. Daher bleibt die Strafe, solange der Hass gegen sich selbst - das ist die wahre Herzensbuße - bestehen bleibt, also bis zum Eingang ins Himmelreich“ (Thesen 3 und 4). „Wahre Reue sucht und liebt die Strafen; der Reichtum der Ablässe aber befreit von ihnen und führt dazu, die Strafen - zumindest bei Gelegenheit - zu hassen“ (These 40). „Man soll die Christen ermutigen, dass sie ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen trachten“ (These 94).

Das war Luthers Idealbild vom christlichen Menschenmaterial: die Fußabtreter Gottes, hündisch ergeben, entpersönlicht, jeglicher Würde beraubt - der Dreck unter den Fingernägeln des Allmächtigen. So war seine Sichtweise im Herbst 1517, womöglich mehrere Jahre nach dem legendären Turmerlebnis, das ihm den Kern der reformatorischen Lehre bescherte: „dass durch das Evangelium Gerechtigkeit Gottes offenbart werde, nämlich eine passive, durch die Gott uns in seiner Barmherzigkeit durch Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: Der Gerechte soll aus Glauben leben“. Eigenartig: Mit Barmherzigkeit haben die 95 Thesen nun rein gar nichts zu tun.

Meine Lateinkenntnisse erschöpfen sich in „Die spinnen, die Römer!“, weshalb ich notgedrungen auf die deutsche Übersetzung der 95 Thesen zurückgreifen muss - aber welche? Drei habe ich auf luther.de, ekd.de und dem unschätzbaren gutenberg.spiegel.de gefunden. Sie sind irritierend unterschiedlich. Die authentischste, weil verquasteste und unverständlichste, dürfte diejenige auf gutenberg.spiegel.de sein. Den beiden anderen ist deutlich das Bemühen anzumerken, Luthers Gerede leidlich für heutige Menschen rüberzubringen. Verfasser und Zeitpunkt der Übersetzungen sind nicht genannt. Für die Zitate habe ich die Übersetzungen von luther.de und ekd.de verwendet.

Am Anfang war der Abort

Das Turmerlebnis: Nicht mal über das Jahr sind sich die Gelehrten einig - irgendwann 1513 bis 1519 sei es gewesen, als Luther auf dem stillen Örtchen die große Erleuchtung kam, die ihn sich „völlig neu geboren“ fühlen und „durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst“ eintreten ließ. Aber vielleicht ist auch das nur eine schöne Legende, so wie das an die Kirchentür genagelte Plakat oder der Tintenfass-Molli wider den Leibhaftigen. Vielleicht gab es Luther überhaupt nicht. Ein deutscher Freizeit-Historiker behauptet, Karl der Große habe niemals existiert. Ein Verlust wäre es nicht (wie die gesamte Despoten- und Kriegstreiber-Mischpoke, woraus die sog. Geschichte besteht). Möglicherweise war ja auch Martin Luther nur die hingepfuschte Erfindung einer machtpolitischen Verschwörung. Die Ungereimtheiten beginnen schon bei der Geburt: Er selbst behauptete, 1484 in Mansfeld geboren zu sein. Tatsächlich war es Eisleben, und als Geburtsjahr gilt gemeinhin 1483. Luther hieß auch gar nicht so. Vielmehr war er ein geborener Luder. Wäre ihm seine internationale Karriere (sogar in Amerika ist Martin Luther King) mit diesem bescheuerten Namen gelungen? Wohl kaum, genauso wie uns vielleicht Adolf Hitler erspart geblieben wäre, hätte er Schicklgruber geheißen. Immerhin haben Karl der Große und Martin Luther etwas gemeinsam: Der eine setzte mit brachialer Gewalt das Christentum in deutschen Landen durch, der andere führte es zu neuer Größe, als es nach 1500 Jahren schier ausweglos in einer Sackgasse steckte.

Lass ab!

Der Ablasshandel, igittigitt pfui Deibel, schlimm-schlimm! Im Volksglauben besteht die gesamte Reformation allein darin, dass Luther dagegen seine 95 Thesen postete. Darin bestritt er aber nicht die Existenz von Teufel und Fegefeuer. Er prangerte nicht an, dass die Menschen für dumm verkauft und ausge­nommen wurden. Er hatte nur ein einziges rein theologisches Problem: Er stellte ausschließlich die Befugnis und Fähigkeit des Klerus in Abrede, arme Seelen aus dem Fegefeuer zu befreien. In der Ablehnung des Ablasshandels allein aus theologischen Erwägungen war Luther reaktionärer und inhumaner als die katholische Kirche, denn er ließ den verbiesterten Gläubigen keinen Ausweg: Einmal Hölle, immer Hölle! Wer die Hölle verdient hat, darf nie wieder herauskommen. Die katholische Kirche hingegen relativierte, ja geradezu ironisierte den Teufelsglauben, indem sie ihren Schäflein augenzwinkernd zu verstehen gab: Alles halb so schlimm, für ein paar Silberlinge lässt sich der Gottseibeiuns milde stimmen und entlässt eure lieben Toten aus dem Fegefeuer. So ist das eben: Geld regiert nicht nur die Welt, sondern auch Himmel und Hölle. Nach dem Kauf eines Ablasszettels waren die Menschen guter Dinge, entspannt und erleichtert - nicht nur finanziell, sondern vor allem mental. Dass sich Naivlinge für Mumpitz das Geld aus der Tasche ziehen lassen, ist eigentlich nichts Besonderes. Warum soll ein gewiefter Geschäftemacher wie Johannes Tetzel so viel perfider sein, als wenn in unschöner Regelmäßigkeit die Telekom anruft und mir den Bären aufbinden will, mein Telefon und Internet würden ab nächstem Monatsersten nicht mehr funktionieren, es sei denn, ich buche für ein Schweinegeld einen teureren Tarif und einen neuen Router. Darauf kann man hereinfallen, man kann es aber geradeso gut bleiben lassen. Was Luther mit seinen ach so epochalen 95 Thesen vollbrachte, kann jeder Verbraucherschutzverein ungleich besser. Heutzutage gibt es ja auch Leute, die PDS und AfD wählen, weil die ihnen weismachen, dadurch würden sie das Himmelreich auf Erden gewinnen. Pech, die Dummen werden nun mal nicht weniger.

Bausparer

Der Papst und seine Kardinäle hätten ihren Anteil der durch den Ablasshandel eingeheimsten Kohle für Koks und Nutten verprassen können, davon hätte niemand was gehabt. Stattdessen verwendeten sie das Geld für den Bau des Petersdoms in Rom. Da sieht man mal, wie fortschrittlich die katholische Kirche war: eine frühe Form des Crowdfunding. Den Bau eines dem Ruhme des Allmächtigen geweihten Gotteshauses zu finanzieren ist für einen guten Christenmenschen doch nicht das Schlechteste. Wenn der Schrebergartenverein eine neue Grillhütte benötigt, müssen die Mitglieder auch mal was springen lassen. Das ist allemal effizienter, als wenn Jahrhunderte später ein Pater Brown mit dem Laubsägemodell seiner Wunsch-Kirche auf Betteltour gehen muss. Außerdem wurden durch St. Peter Arbeitsplätze geschaffen, und die Investition war nachhaltig: Das Ding steht immer noch, ist ein Baudenkmal und eine Touristenattraktion. In unserer Zeit spendete man für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche und bekam dafür eine Armbanduhr - eigentlich nicht besser als das ewige Seelenheil.

Hallelu Jahwe

Die (scheinbare) Abwendung vom strafenden, grausamen Gott des sog. Alten Testaments war plausibel: Als Antisemit musste Luther die christliche Religion entjudaisieren. Dass die Christen das Alte Testament (das jüdische Tanach) für sich benutzten, war ohnehin urheberrechtlich eine Unverschämtheit sondersgleichen, schlichtweg unzulässig. Das ist so, als würde ein Mitarbeiter, der aus einem Betrieb ausscheidet, um einen Konkurrenzbetrieb zu gründen, Konstruktionspläne und sonstige Unterlagen kurzerhand mitgehen lassen, um sie künftig für eigene Zwecke zu verwenden. Zudem ist die Verwendung des Tanach durch die Christen inhaltlich völliger Blödsinn, denn dieses ist die Mythologie und Geschichte einer geschlossenen ethnisch-religiösen Gemeinschaft, die für andere nicht gilt. Das Dreisteste aber: Die Christen raubten dem Allmächtigen den Namen. Eigennützig reduzierten sie Jahwe auf dessen bloße Funktion: „Gott“ - wie schroff, wie unpersönlich und abfällig, respekt- und lieblos, klingt wie „doof“ oder „Schrott“. Selbst Sklaven hatten einen Namen, kein Hund wird einfach nur „Hund“ genannt. Luther hatte recht: Der strafende, grausame Gott ist völlig überholt - Luther selbst reicht schon. Was er sich an Gewaltfantasien erlaubte, war wirklich göttlich.

Schreibtischtäter

Andererseits hat dieser abstoßende Dreck niemals zur alltäglichen, laienhaften Luther-Rezeption gehört. Die besteht lediglich aus den 95 Thesen (die niemand kennt), dem Kleinen Katechismus (Kindheitstrauma aller Evangeliken) und „Vom Himmel hoch, da komm' ich her“ zu Weihnachten. Andererseits ändert dies nichts an den Zweifeln daran, wie man guten Gewissens einen Menschen und dessen Wirkung feiern kann, der neben seinem Hauptberuf als Theologe ausgiebig seinem Steckenpferd als faschistischer Einpeitscher frönte. Ist das nebensächlich und zu vernachlässigen, war das eine Marotte, über die man peinlich berührt hinwegsehen kann, um sich dem Wesentlichen zuzuwenden? Es geht hier jedoch nicht um den Erfinder der Büroklammer und dessen politische Einstellungen. Die könnte man ignorieren und dennoch guten Gewissens diese segensreiche Erfindung benutzen. Luthers Bedeutung aber beruht ausschließlich auf seiner Funktion als geistig Tätiger, als Publizist und Meinungsbildner. Seine Hasstiraden äußerte er nicht im vertrauten Familien- und Freundeskreis, sondern er veröffentlichte sie wie seine religiösen Traktate, sie waren unverzichtbarer Bestandteil seines Schaffens. In diesem Fall aber kann und darf man nicht über solche ideologischen Auswüchse hinwegsehen, die nicht ins Heile-Welt-Bild passen. Kann der übrige Luther daneben noch Bestand haben?

Hallo, Mister Gott!

Eine der Errungenschaften der Reformation bestehe darin, dass die Anmaßung des katholischen Klerus und aller Heiligen, als unverzichtbare Mittler zwischen Gott und den Menschen zu fungieren, abgeschafft wurde. Stattdessen sei jeder Getaufte ein Priester und habe eine unmittelbare Beziehung zu Gott. Nicht die Äußerungen des Klerus gälten, sondern ausschließlich die Bibel, insbesondere das Evangelium. Wenn das so ist, weshalb gibt es dann die Institution Evangelische Kirche in Deutschland und die 20 Landeskirchen (deren Gliederung die Welt von vor 500 Jahren abzubilden scheint: „Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz“, „Hessen und Nassau“, „Kurhessen-Waldeck“, „Schaumburg-Lippe“)? Wozu dienen der Rat der EKD, die Kirchenkonferenz, die Synode, zudem Bezirkssynoden, Landessynoden, Gesamtsynoden, Dekanatssynoden, Dekanatssynodalvorstände, Landessynodalausschüsse, Bischöfe, Regionalbischöfe, Landesbischöfe, Kirchenpräsidenten, Präsiden, Prälaten, Pröbste, Bischofsräte, Bezirkskirchenräte, Landeskirchenräte, Oberkirchenräte, Regionalkirchenämter, Landeskirchenämter, Kirchenleitungen, Kirchenausschüsse, Kirchensenate, Kirchenregierungen, Konsortien, Konsistorialpräsidenten, Superintendenten, Landessuperintendenten, Generalsuperintendenten? Ach ja, und Pfarrer gibt es auch noch. Sind die nach Luthers Lehre völlig überflüssig, spielen sie lediglich Nebenrollen, während die Religion basisdemokratisch abläuft? Durfte das evangelische Fußvolk zu Luthers Zeiten sich vom evangelischen Klerus emanzipieren? Natürlich nicht, sondern die evangelischen Kleriker verschafften sich von Anfang an die gleichen Machtpositionen und schufen das gleiche Unterdrückungssystem wie die katholischen. Bereits Ende der 1520er Jahre schrieb ein ehemaliger Luther-Anhänger in der ersten evangelischen Stadt Nürnberg: „Wir hofften, dass die römische Büberei sollte gebessert werden. Aber wenn man sich das so ansieht, ist die Sache noch ärger geworden, sodass die evangeli­schen Spitzbuben nun jene Spitzbuben fromm aussehen lassen.“ Luther und Genossen verfuhren mit Gegnern genauso wie die katholische Kirche: 1529 beschlossen Katholiken und Evangeliken einträchtig die Todesstrafe für die sog. Täufer. Seine ihm unliebsam gewordenen Reformations-Kollegen Caspar Schwenckfeld ließ Luther aus Schlesien, Andreas Bodenstein-Karlstadt aus Sachsen ausweisen. Nach dessen Rückkehr wollte Luther ihn verhaften lassen, wessen er sich nur durch Flucht in die Schweiz entziehen konnte.

So lala

Sola scriptura, allein die „Schrift“ gilt, dekretierte Luther, Konzile und theologische Überlieferung seien überflüssig. Indem die katholische Kirche sich auf Konzile und theologische Überlieferung stützte, gab sie immerhin indirekt zu, dass Religion Menschenwerk ist. Luther widerlegte seine Doktrin, allein die „Schrift“ sei ausreichend und maßgeblich, selbst durch seine Vielschreiberei und -rednerei („Martin Luther“ war eine Marke wie heutzutage „Disney“ oder „Dieter Bohlen“). Wozu sind die unüberschaubaren Luther-Elaborate¹ erforderlich, wenn doch alles aus der „Schrift“ hervorgeht? Warum mussten dann Menschen bierernst darüber diskutieren, ob Christus beim Abendmahl nur symbolisch (Zwingli) oder körperlich (Luther, jedes Abendmahl eine Séance?) anwesend sei? Luther und Huldrych Zwingli versammelten sich hierzu 1529 beim „Marburger Religionsgespräch“, sogar beim Augsburger Reichstag 1530 wurde darüber diskutiert. Was waren diese Zusammenkünfte denn anderes als Quasi-Konzile? So strikt ausschließlich das Evangelium gelten zu lassen ist eindimensional und scheuklappenbehaftet. Warum soll es nicht zulässig sein, dass denkende Menschen Neues, Ergänzendes, Eigenständiges entwickeln, statt stur an dem zu haften, was sich irgendwelche Leute vor tausenden Jahren ausdachten und als Gottes Wort ausgaben?

Name ist Schall und Rauch

Die Bezeichnung „Reformation“ (Umgestaltung, Erneuerung) ist bloße Verhüllung und Schönfärberei wie die unsägliche „Wende“ - mit umgekehrtem Vorzeichen: „Reformation“ soll vorgaukeln, der Vorgang sei mehr gewesen, als er tatsächlich war. Die Bezeichnung wäre sinnvoll und gerechtfertigt, wenn die katholische Kirche reformiert worden wäre. Dies aber war eben nicht der Fall, sondern die Reformation war lediglich eine Abspaltung. Die katholische Kirche blieb unangefochten bestehen, nur etwas gesundgeschrumpft und existiert bis heute - über das Ganze hin (wie der Name schon sagt). Weltweit ist sie weiterhin die Nr. 1. Ist das Papsttum seit 500 Jahren verschwunden, führt es zumindest ein Nischendasein und ist pfui? Ganz im Gegenteil: Im Lande Luthers kommt der Papst gleich nach den Royals und Helene Fischer. Hat die evangelische Kirche etwas annähernd Gleichwertiges wie den Papst zu bieten, der alljährlich ein globales Mega-Event mit Schwurbel et Göbel abzieht? Hat der Präsident des Lutherischen Weltbundes schon mal eine UN-Vollversammlung eröffnet? Tatsächlich war die sog. Reformation nichts anderes als die Gründung eines Konkurrenzbetriebes auf der Basis des einstigen Monopolisten, dem ein Teil des Personals und der Kundschaft abgeworben wurde.

Neben der katholischen und der evangelischen gibt es noch eine dritte Fraktion: die orthodoxen Kirchen. Machen die auch solch eine Welle wegen ihrer Entstehung und führen sich auf, als wäre dadurch das Paradies auf Erden ausgebrochen, wie die Evangeliken derzeit? War die Bildung der orthodoxen Kirchen ebenfalls angeblich ein zivilisatorischer Fortschritt? Auch die handstreichartige Gründung der angli­kanischen Kirche - Heinrich VIII. ein kleiner Martin Luther? Ersterer hätte sich den ganzen Scheidungsstress sparen können, wenn er Letzteren gebeten hätte, stattdessen einer Vielehe seinen Segen zu geben, so wie Luther eben mal so zustimmte, dass Landgraf Philipp I. von Hessen eine zweite Ehe einging. Dadurch bekam das Luther'sche Diktum „in der Woche zwier“ eine ganz neue Bedeutung. Alle Menschen waren vor Gott und Martin Luther gleich, aber der Hochadel war naturgemäß sehr viel gleicher.

Ganz verspannt im Hier und Jetzt

Was wird eigentlich gefeiert, welche Veranlassung gibt es? Welcher greifbare Fortschritt entstand vor 500 Jahren für die Menschen, die - zumeist zwangsweise (cuius regio, eius religio) - zum Lutherismus übergetreten wurden? Brauchten sie fürderhin weniger Hunger zu leiden, bekamen sie wärmere, trockenere Behausungen, hatten sie besseren Zugang zu Bildung, erhielten sie bessere medizinische Versorgung, waren sie weniger der Unterdrückung durch Despoten von Gottes Gnaden ausgeliefert, wurden sie weniger in heiligen Kriegen verheizt („Gott segne unsere Waffen“)? Gab es plötzlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Gäbe es dies heute ohne Reformation nicht? Ist es von Belang, dass irgendwann irgendjemand auf die Idee kam, dass statt 9 besser 10 Kegel verwendet werden sollten und dass die Kugel größer und mit Grifflöchern versehen sein sollte? Worin besteht der wirkliche Unterschied zwischen Kegelschieben und Bowling? Welchen Gewinn hat irgendjemand davon, wenn in einem Pupswurzzüchterverein, der seit 1500 Jahren nach der reinen Lehre mit Schweinemist düngt, eine von göttlicher Eingebung beseelte Fraktion sich abspaltet, weil sie Kuhfladen und Pferdeäpfel für nährstoffreicher hält? Exkremente bleiben Exkremente (auch Kamelkot gehört zu Deutschland). Warum soll ich jemanden als Helden und Vorbild betrachten, der sich tollkühn gegen die Mächtigen des Kegel- und Pupswurzwesens stellt und diese spaltet? Geht es den Evangeliken seit 500 Jahren besser als den Katholiken? Müssten Erstere einen Katholi-Soli entrichten, um die Lebensverhältnisse der Letzteren, die 500 Jahre lang den Kürzeren gezogen haben, allmählich anzugleichen? Lag vor 500 Jahren eine Win-win-Situation für alle Beteiligten vor? Oder war die gesamte Reformation nichts weiter als die monströse Selbstinszenierung eines elitären Wichtigtuers und seiner Gefolgschaft, denen ihre abgedrehten, nutzlosen theologischen Hirnflatulenzen und ihr halluzinierter Gott wichtiger waren als die irdische Realität und der Rest der Menschheit, den Sankt Martin als Pöbel zu bezeichnen geruhte?

Man soll die Tage feiern, wie sie fallen

Ein Gedenktag ist nur dann sinnvoll und gerechtfertigt, wenn das Ereignis entweder negativ war und sich nicht wiederholen darf (z. B. 30. Januar 1933) oder positiv mit positiver Wirkung bis heute (z. B. 23. Mai 1949). Oder sowohl als auch: 3. Oktober, der einerseits Nationaltrauertag ist, andererseits Feiertag der PDS wegen ihrer - wenn auch misslungenen - West-Erweiterung. Weder das eine noch das andere trifft jedoch hinsichtlich der Reformation zu.

Wer darf/soll/muss eigentlich feiern? Ausschließlich die Evangeliken oder auch die Katholiken? Auch die Andersgläubigen und Nichtreligiösen? Schließlich war die Reformation doch angeblich der Beginn der Neuzeit, wovon wir alle profitieren. Dann ist sie auch für unsere islamischen Mitmenschen und -innen von großer Bedeutung. Die EKD kann ja mal dem Zentralrat der Muslime, Ditib und Milli Görus mitteilen, dass Luther und die Reformation auch für sämtliche Muslime ein Grund zum Feiern ist - mal sehen, wie die Antwort lautet. Apropos: Auch die katholische Kirche wird aus dem Ausland gesteuert - vom Vatikanstaat.

Wenn die Reformation und die evangelische Religion so supertoll sind, dann müssten die Katholiken - die Freiheit des Christenmenschen in Anspruch nehmend - doch seit 500 Jahren begierig darauf sein, endlich rüberzumachen. Oder sind sie allesamt Trittbrettfahrer, die von dem durch die Reformation angeblich bewirkten zivilisatorischen Fortschritt schamlos schmarotzen, oder beinharte Reaktionäre, die sei 500 Jahren verhindern, dass wir im Paradies leben?

Warum soll die Reformation, die sich ausschließlich mit Themen befasste, die vor 500 Jahren von Belang waren, für uns Heutige noch wichtig sein? Oder wollen die evangelischen Chefideologen uns im Ernst weismachen, den bösen-bösen Ablasshandel (was juckt mich der?) und den Terror der katholischen Kirche gäbe es noch heute, sofern es keine Reformation gegeben hätte? Im Übrigen schaffte die katholische Kirche den Ablasshandel doch nicht deshalb ab, weil irgendein dahergelaufener Herr Luther das so wollte. Was interessieren uns diese Vorgänge vor 500 Jahren, die sich in einem kranken, lebens­feindlichen System abspielten, wovon Luther und seine Anhänger ebenfalls nur ein Teil waren? Die damaligen Christen - katholisch wie evangelisch - befanden sich geistig und moralisch auf dem Niveau von heutigen strenggläubigen Muslimen und Islamisten. Es interessiert uns doch auch nicht, dass vor 3350 Jahren in Ägypten ein Pharao namens Echnaton versuchte, den von Amun-Re angeführten Pantheon durch Aton zu ersetzen - der erste monotheistische Gott der Geschichte (lange vor Jahwe). Darüber können wir heute nur milde lächeln und ungläubig den Kopf schütteln - ein Grund zum Feiern ist es aber nicht. Was also gibt es wegen Luther zu feiern? Wenn er sich wenigstens eine komplett neue Religion ausgedacht hätte, so wie 900 Jahre zuvor dieser ... na, dieser Dingsbums, nicht sagen, ich hab‘s gleich ... Mohammed, das wäre noch was gewesen.

Unser Held

Luther allein gegen die Mächtigen der Welt! Na ja, ganz so doll war es denn doch nicht: Zwar wurde wegen seiner satanischen Thesen die päpstliche und kaiserliche Fatwa über ihn verhängt. Von Anfang an stand Luther jedoch unter dem Schutz des Kurfürsten von Sachsen (Kur heißt nicht „morgens Fango, abends Tango“, sondern Wahl), Friedrich III. mit Namen, aus mir nicht bekannten Gründen „der Weise“ geheißen. Der schaffte es sogar, dass die von Kaiser Karl V. verhängte Reichsacht (Acht heißt nicht 9 minus 1, sondern Ächtung), durch die Luther rechtlich Freiwild wurde, nicht in Sachsen galt. Eine Hand wäscht die andere: Karl war erst zwei Jahr zuvor von Friedrich und den 6 weiteren Kurfürsten - mithilfe gewisser finanzieller Aufmerksamkeiten - zum Kaiser gewählt worden.

Ausgerechnet Karl V., der 21-jährige kindliche Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, selbsternannter Hüter des christlichen Glaubens, hatte einen Tag nach dem Verhör Luthers auf dem Reichstag in Worms am 17./18. April 1521 einen hellsichtigen Augenblick, als er kundtat, wenn Luthers Ansicht zuträfe, „wäre die ganze genannte Christenheit immer im Irrtum gewesen und würde es heute noch sein.“ Wie recht er hatte - und die Reformation änderte daran leider überhaupt nichts. Welch rührende, ungewollte Selbstironie, dass sich Karls allerchristlichstes Reich auf das antike römische Imperium berief - das Goldene Zeitalter, als es noch kein Christentum und keinen Islam gab.

Es überaus bedauerlich, dass Luther seine Energie und Rigorosität nicht für sinnvolle Ziele einsetzte. Auf abstrakt-struktureller Ebene, also unabhängig von seinem günstigenfalls höchst überflüssigen, ungünstigenfalls höchst schädlichen Thema Religion, seinen inakzeptablen gesellschaftlich-politischen Äußerungen, den mörderischen Folgen, ist der Luther der Anfangsjahre, des Wormser Reichtstags durchaus ein Vorbild: Er entwickelte einen eigenen, konträren Standpunkt und ließ sich trotz Drohungen nicht unterkriegen, „weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun“. Er forderte sein Jahrhundert in die Schranken, wie Friedrich Schiller 266 Jahre später Don Carlos, Enkel Karls V., sagen lassen wird. Luther zeigte uns, wie man's macht: aufstehen, nein sagen, handeln, etwas Neues schaffen (z. B. eine neue Partei gründen, welche SPD und Grüne, die Vereine der Freunde und Förderer der PDS, ablöst und für immer aus der Geschichte entlässt).

It's Showtime!

Die evangelische Kirche hat seit 500 Jahren marketingtechnisch einen eklatanten Fehler begangen: Sie verfügt seit der Abkehr vom Papst über keine Personifikation ihrer Macht und Glorie - außer eben Martin Luther, der jedoch schon ziemlich lange schon ziemlich tot ist. Das Volk will aber Idole und Identifikationsfiguren zum Bestaunen und Bejubeln: Jeder Schützenverein krönt jedes Jahr ein Königspaar in vollem Wichs, jeder Karnevalsverein hat ein Prinzenpaar mit disneyländischem Migrationshintergrund, in Göttingen gibt es die alljährliche Wahl des Gänseliesels zur Förderung des innenstädtischen Einzelhandels. Ich empfehle der EKD daher, dergleichen zum Reformationsjubiläum einzuführen: Jedes Jahr wird ein Paar gekürt, das fesch herausgeputzt bei offiziellen und festlichen Anlässen den Martin und die Katharina gibt. Das würde die Popularität und den Unterhaltungswert der evangelischen Kirche enorm steigern. Sie darf sich doch nicht von Franziskus und seinen Vor- und Nachgängern die Schau stehlen lassen.

Des Weiteren sollte die EKD eine Fortsetzung des von ihr und amerikanischen Glaubensgeschwistern mitfinanzierten Propagandafilms „Luther“ (2003) produzieren, diesmal aber etwas mehr dem aktuellen, vor allem jugendlichen Massengeschmack entgegenkommend, z. B. an den Erfolg von „Skull Island“ angelehnt: „Martin Luther Kong“.

Auch ein Musical sollte die EKD herausbringen: „Küss mich, Käthe“, mit Klassikern der Pop- und Rockmusik: Thunder and Lightning; Like a Prayer; I'm a Believer; Oh no, not Religion again; Kathleen (Catholicism made easier); Yesterday Man; Losing my Religion; Stairway to Heaven; Highway to Hell; Sympathy for the Devil; Devil in Disguise; Welcome to my Nightmare; When I'm dead and gone; In Germany before the War; Forgiven, nor forgotten; Hava Nagila.

Ich habe rechtfertig

Im Zuge des Reformationsjubiläums ist der Geist Luthers über uns gekommen - in Gestalt einer neuen Rechtfertigungslehre. Irgendwie muss dem gemeinen Volk doch erklärt werden, worum es bei diesem ganzen Reformationsgedöns geht, warum das angeblich von allgemeinem Interesse ist. Der religiöse Aspekt interessiert fast niemanden. Den meisten evangelischen und katholischen Kirchensteuerzahlern ist es doch völlig schnurzpiepe, ob sie evangelisch oder katholisch sind. Die Konfessionszugehörigkeit ist keine höchstpersönliche Entscheidung, sondern eine Erbkrankheit, die schicksalsergeben als unabänderlich hingenommen wird. Wie hoch ist der Anteil der Katholiken und Evangeliken, welche die feinen Unterschiede zwischen katholischer und evangelischer Theologie kennen? Und die Andersgläubigen und Nichtreligiösen interessiert der religiöse Aspekt erst recht nicht. Der ist lediglich für Bedford-Strohm, Käßmann und ihresgleichen von Belang.

Gemeinhin ist Luther nur ein schönes Märchen aus romantischer Zeit: Es war einmal Jung-Martin, der besiegte den garstigen Drachen Leo, indem er ihm ein Plakat mit 95 Thesen vor den Kopp nagelte. Dann übersetzte er die Bibel (was schon viele vor ihm getan hatten), wodurch er die deutsche Sprache nachhaltig prägte (die Sprachgemeinschaften der restlichen Welt sind ohne Luther allerdings auch nicht auf Teletubby-Niveau stecken geblieben). Schließlich kriegte er die Nonne von Bora (Refugees welcome), dieses Luder. Sie lebten noch lange glücklich und zufrieden mit ihren vielen Kindern, und wenn sie nicht gestorben wären ...

Brüder, zur Sonne ...

Journalisten und Historikern, deren Beruf es ist, uns die unerklärliche gegenwärtige und vergangene Welt zu erklären, kann dies natürlich nicht ausreichen. Deshalb rechtfertigen sie das Jubiläum, indem sie uns erläutern, die Reformation sei ein Aufbruch zur Freiheit gewesen; nicht nur in in deutschen Landen, sondern mit Weltwirkung; sie habe den Weg in die Moderne geöffnet; sie habe wesentliche Impulse für die Entstehung unserer neuzeitlichen, modernen Welt gegeben; ohne sie hätten wir keine Menschenrechte wie Meinungs- und Religionsfreiheit; aus ihr sei die pluralistische Zivilisation des modernen Europa hervorgegangen. Religion und religiöse Protagonisten als Fortschrittsmotor - soll das ein Witz sein? Ausgerechnet Luther mit seiner Intoleranz, seinem Allmachtsanspruch und seinen Gewaltfantasien und die auf die Kirchenspaltung folgenden Kriege und Massenmorde seien Urheber unseres zivilisatorischen Niveaus? Luther würde jedem ein „Vade retro, Satanas!“ samt Tintenfass entgegenschleudern, wenn er die bloßen Begriffe hören würde. Aber selbst wenn es so wäre, wenn es also aus heutiger Sicht nicht um Religion, sondern um gesellschaftlich-politische Errungenschaften ginge: Warum wird das Reformationsjubiläum dann nicht von der Bundesrepublik ausgerufen, warum nicht von der EU, dem Europarat, warum nicht von den UN? Warum stattdessen von der evangelischen Kirche? Weil es eben doch ausschließlich um die Anmaßung und Selbstdarstellung einiger klerikaler Wichtigtuer geht, lediglich um das Jubiläum der Gründung des Evangelikenvereins, das niemanden sonst zu interessieren braucht.

Ein bisschen Frieden

Ein evangelischer Luther-Biograf versteigt sich gar zu der Behauptung, „Luther und die Reformation haben entscheidend dazu beigetragen, dass wir in Europa heute friedlich miteinander leben“, denn „christlicher Fundamentalismus ist seit Ende des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr akzeptabel“. Diese Logik ist nicht ganz unoriginell: Der Reformation, ohne die es den Dreißigjährigen Krieg und die Religionskriege während der vorherigen 100 Jahre nicht gegeben hätte, sei es zu verdanken, dass es keine Religionskriege mehr gibt. Aber wir wollen nicht kleinlich darin herumprokeln, wer woran schuld war und wer was verursachte. Vielmehr erfreuen wir uns an dem beglückenden Umstand, dass Europa seit 370 Jahren religionskriegsfreie Zone ist (mal abgesehen von Nordirland und Srebrenica). Da fallen die unzähligen anderen Kriegleinchen inkl. WK I u. II, die es seit 1648 gab, überhaupt nicht ins Gewicht. Das ab 1648 einsetzende relativ friedliche, aber von Abgrenzung und Vorurteilen bestimmte Nebeneinander von Katholiken und Evangeliken, das erst nach 1945 ein Miteinander geworden ist, beweist vor allem eines: die Belanglosigkeit, die Überflüssigkeit der Reformation. Ob katholisch oder evangelisch, war und ist völlig einerlei. Den Katholiken ging und geht es nicht schlechter, den Evangeliken nicht besser. Die Reformation diente lediglich dazu, während der folgenden 100 Jahre auf den Dreißigjährigen Krieg hinzusteuern, damit die entwickelte, institutionalisierte Religion ihren finalen monströsen Höhepunkt erreichte, ein letztes Mal zeigte, was sie drauf hat und was seit je ihr eigentlicher Daseinszweck war: Macht, Unterdrückung, Menschenfeindlichkeit, Gewalt und Tod. Danach trat die Religion als Vorwand für politisches Handeln und als eigenständiges politisches Subjekt mehr und mehr in den Hintergrund. Die Despoten und Kriegstreiber emanzipierten sich von der Religion und schufen ihre eigenen Ideologien. Die beiden Weltkriege, die Nazi-Hölle, der Kommunismus wurden nicht durch die Reformation verhindert; der Frieden, den wir seit 1945, und die Freiheit, die wir seit 1945 bzw. 1989 haben, sind nicht Folge der Reformation, ebenso wenig technischer Fortschritt, medizinischer Fortschritt, sexuelle Entkrampfung, wirtschaftliches Auskommen für alle. Das hätte sich auch ohne die Reformation entwickelt. Nichts, was heute gut ist, wäre ohne die Reformation schlechter. Nach 500 Jahren ist das Getöse der Wittenbergischen Nachtigall nur noch ein Pieps im Sturm.

Derselbe Autor meint, der Umstand, dass die (wohlgemerkt durch die Reformation hervorgerufene) „religiös begründete Fundamentalfeindschaft“ überwunden wurde „- nicht gegen die Religion, sondern mit ihrer Hilfe -“, könne gar die „bescheidene, aber historisch begründete Hoffnung wecken, dass auch der radikale Fundamentalismus unserer Tage sich aus der inneren Kraft des Religiösen überwinden oder zumindest einhegen lässt“ - am evangelischen Wesen soll der Islamismus genesen.

Bei all diesem Gerede kommt mir das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern in den Sinn: Sämtliche Untertanen sehen, dass der Kaiser in Unterwäsche herumläuft, aber niemand traut sich, es zu sagen, sondern alle bewundern die scheinbare Pracht der Gewänder. Es erinnert mich auch an einen Schnack aus meiner Schulzeit über Lektüre im Deutschunterricht: Beim Interpretieren sei frisch und munter, wenn nichts drin liegt, schieb was unter!

Update und Neustart

Der zivilisatorische Luther-Effekt ist lediglich eine Hypothese, die nicht beweisbar ist (auch nicht widerlegbar). Ich stelle dem eine andere Hypothese entgegen: Ohne Luther und die Reformation wäre das Christentum in seiner Sackgasse verrottet und implodiert. Europa hätte wieder Vorreiter und Zugpferd der zivilisatorischen Entwicklung werden und eine epochale Wende in der Geschichte der Menschheit einleiten können: Nach und nach wäre das Thema Religion im Sande versickert und heute nur noch eine ferne, Kopfschütteln und Schmunzeln verursachende Vorvergangenheit. Wir wären den ganzen Religionskrempel schon lange los und hätten dennoch das jetzige zivilisatorische Niveau des Westens erreicht - vielleicht gar ein deutlich höheres. Diese Entwicklung wurde aber im Ansatz erstickt, weil Religion durch die Reformation neue Fahrt bekam: evangelisch brandneu, katholisch durch den evangelischen Gegner gestärkt (jedes autoritäre System braucht einen imaginären äußeren Feind, um sich zu rechtfertigen) und gleichzeitig entlastet. Insofern muss die katholische Kirche Luther auf Knien danken: Der Druck des latenten, schon vor Luther vorhandenen Unmuts, der Kritik war raus und in die evangelische Kirche abgeleitet, und die katholische Kirche hatte wieder ihre Ruhe. Diese muss sich mal vergegenwärtigen, wie sie heute dastünde, wenn die sog. Reformatoren tatsächlich die katholische Kirche reformiert und darin die Macht übernommen hätten - Gott bewahre! Unterm Strich ging die katholische Kirche somit als Siegerin aus dem Zwist hervor: Ihre Reformation fand nicht statt. Es war lediglich die Reanimation einer Todkranken.

Nichtsdestoweniger: Zu Luthers Zeit begann langsam, aber sicher die europäische Moderne. Diese aber besteht darin, dass die institutionalisierte Religion immer mehr an öffentlicher und politischer Bedeutung verlor. Soll Luther unterstellt werden, dass es seine Absicht und Wirkung gewesen sei, die Religion zu neutralisieren? Dafür würde er sich schön bedanken. Die Entmachtung der Religion während der letzten Jahrhunderte war ein Vorgang, der eben nicht von religiösen Protagonisten befördert wurde, sondern von Politikern und Ideologen. Freiheit und Frieden für die Menschen bedeutete das jedoch nicht. Der Wirkungskreis von Religion wurde lediglich auf private, individuelle Unterdrückung beschränkt. Die öffentliche, kollektive Unterdrückung übernahmen nahtlos Politik und Ideologie. Was die Nazis und die Kommunisten, die erst einige Jahrzehnte zurückliegen, anrichteten, würde sämtliche Päpste und sonstigen religiösen Protagonisten der letzten 2000 Jahre vor Neid erblassen lassen.

Toten-Sonntag

In einem Artikel über Luther und Reformation heißt es: „Es geht zwar niemand mehr in die Kirche, aber wer hingeht, bekommt einen Vertrauensvorschuss“ - d. h. entspricht der verkitschten Rosamunde-Pilcher-Weltsicht der meisten Menschen und unterwirft sich der unterschwelligen, permanent vorhandenen Bevormundung und mentalen Gängelung durch die Kirchen. Dies zeigte sich auf erschütternde und beschämende (und amüsante) Weise im sog. TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz am 3. September: Eine der Journalisten fragte die beiden, ob sie am selben Tag (einem Sonntag) in der Kirche gewesen seien. Statt diese ohnehin nicht ernst zu nehmende Frage humorig aufzufangen und z. B. zu antworten: „Als per Definition unentbehrlicher Berufspolitiker, auf dessen Schultern auch am heiligen Sonntag die Verantwortung für die gesamte Nation lastet, hat es mein übervoller Terminkalender heute ausnahmsweise nicht erlaubt, eine Andacht zu besuchen“, reagieren beide wie ertappte Konfirmanden, die den Gottesdienst geschwänzt haben: Merkel antwortet zunächst kurz angebunden und etwas trotzig, sie sei heute nicht in der Kirche gewesen. Nun Schulz: Im ersten Moment will er ebenfalls die Wahrheit sagen und setzt zu den Worten an: „Ich war heute nicht in ...“, doch er verhaspelt sich - und hat plötzlich einen lichten Augenblick. Er erkennt die Lücke in Merkels Verteidigung und stürmt los: Er habe heute die Kapelle eines Friedhofs, auf dem ein Freund beerdigt sei, besucht. 1:0 für Schulz. Da muss Merkel natürlich gleichziehen und knallt ebenfalls eine Leiche auf den Tisch: Sie sei gestern in einer Kirche gewesen, weil ihr Vater Todestag gehabt habe. Ätsch, 2:1 - ein toter Vater zählt viel mehr als ein toter Freund.

Jedem Anfang wohnt ein Ende inne

Luther war Antisemit und Militarist, er predigte Obrigkeitshörigkeit und Gewalt, er war überzeugt, dass der Teufel existiert. All dies gilt heute nicht mehr, weil erwiesenermaßen Unsinn. Na ja, das war eben damals so die Zeit, und Luther war wie jeder Mensch ein Kind seiner Zeit. Woher wissen wir denn, dass alles Übrige, das Luther so verlautbarte, nicht gleichfalls Unsinn ist? Vielleicht ist Gott ja auch nur das überkommene Hirngespinst eines überholten Zeitgeistes. „Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde“, und wir machen uns den Luther, wie er uns gefällt - widdewiddewitt.

Die Religionen entstanden ursprünglich, weil die verbiesterte Gattung Mensch, die damit geschlagen ist, ein Bewusstsein zu haben und dennoch kleinkariert zu sein, auf Gewalt und Niedertracht programmiert und Hunger, Krankheit und Katastrophen ausgeliefert zu sein, ein Hilfsmittel benötigte, um die Unbegreiflichkeit, das Elend und die Banalität des Daseins zu ertragen. Vor diesem Dilemma stehen wir ohne jeglichen Fortschritt bis heute. Wir modernen Menschen sollten aber inzwischen die Stärke und die Souveränität besitzen, damit ohne Religion zurande zu kommen. So gilt für alle Religion, was zum Unterthema Reformation zu sagen ist.

„Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“ Ja, dann: Haben wir einen Nutzen von der Reformation? Hätten wir Nachteile ohne Reformation? Brauchen wir die Reformation? Nein, in Gottes und in drei Teufels Namen: NEIN!

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¹Wenn Sie sich mal ein Vergnügen ganz eigener Art gönnen möchten: „D. Martin Luthers Werke - Weimarer Ausgabe“, Verlag J. B. Metzler, ISBN 978-3-7400-0945-8, 112 Bände, 80.000 Seiten, 5.840,00 € (www.springer.com/de/book/9783740009458)

Siehe auch:
Ökumenetekel
Dexodus

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(14.10.2017)

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