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12.12.2018

Schweigekartell

„Toooooooor!!!“ So schien es am 6. Juni landauf, landab aus sämtlichen AfD-Geschäftsstellen und -Fraktionen zu gellen. Nanu, wurde dort vor lauter Vaterlandsliebe schon prospektiv der WM-Endsieg gefeiert? Mitnichten, der Anlass war weit schöner, und der Freudenschrei, der wie ein Donnerhall durch die deutschen Lande brauste, lautete nicht „Tor!“, sondern „Moooooooord!!!“ Endlich hatte wieder ein Flüchtling einen Deutschen umgebracht und wieder eine Jugendliche. Welch Labsal für die gebeutelten, von Entbehrung verhärmten Seelen der AfD-Mitglieder. Glückselig lagen sie einander in den Armen, überströmt von Freuden- und Krokodilstränen, und dankten der gütigen Vorsehung, die sie so reich beschenkt. ER hatte also doch recht gehabt: Es gibt einen Gott! Und diesmal hat er die AfD als sein Werkzeug auserkoren, die große Aufgabe zu verrichten. Des Jauchzens, Jubelns und Frohlockens war kein Ende: „Ali vor, noch ein Mord!“ „Halleluja! Hosusanna!“¹ „So ein Tag, so wunderschön wie heute ...!“

Ja, es war wieder eine Lust, zu leben. Das Herz so übervoll, wollte die AfD auch die Menschen draußen im Lande an ihrer Freude teilhaftig werden lassen. Da kam die Bundestagssitzung am 8. Juni gerade recht. Auftritt Thomas Seitz, MdB: Doch statt wie beim Kindergeburtstag albern herumzuhampeln und mit bunten Papierschipseln um sich zu schmeißen, zog er es vor, seiner überschäumenden Begeisterung auf alternative Weise Ausdruck zu verleihen, indem er sich und uns große Worte und theatralische Gesten ersparte, sondern die leisen, verhaltenen Töne anschlug - genau genommen gar keine: Er schwieg. Und aus der innovativen Wucht dieser nichtssagend vielsagenden Sprachlosigkeit erwuchs ein epochaler Paradigmenwechsel: So haben sich fortan sämtliche AfD-Funktionäre und -Mitglieder zu verhalten. Das ist Parteiauftrag! Doch nicht allein in Parlamenten, auch in Parteiveranstaltungen, Talkshows, Mediengeprächen usw. muss die AfD ihr Schweigegelübde strikt einhalten. „Ja“, brüllt sie unhörbar, „wir wollen das totale Schweigen!“ Die AfD-Mitglieder sind berufen, die Gröschwaz zu werden: die größten Schweiger aller Zeiten. Einerseits sind Leichenfledderei und Störung der Totenruhe Straftatbestände. Die AfD-Mitglieder als vorbildlich gesetzestreue Bürger, denen nicht nur Deutschland, sondern vor allem Recht und Ordnung über alles in der Welt gehen, sollten sich derlei tunlichst versagen. Anderer-Seitz wollen aber auch und insbesondere die Lebenden ihre Ruhe haben - vor der AfD.

Seine AfD-typische Bescheidenheit ehrte Seitz - nur eine einzige klitzekleine Minute wollte er schweigen. Doch was soll so ein Quicky? Nicht kleckern, sondern klotzen! Wenn schon die Flüchtlinge nicht spuren und jede Woche mindestens einen Mord abliefern, um das wackelige Weltbild der AfD zu bestätigen, dann muss eben die AfD mit gutem Beispiel vorangehen und der Welt zeigen, wozu deutsche Disziplin und Leistungskraft fähig sind: Permanent, pausenlos, ununterbrochen müssen die AfD-Abgeordneten schweigen: 15 Minuten Redezeit = 15 Minuten Klappe halten. Während die AfD-Fraktion den Schweigeschwall mit frenetischem Beifall bedenkt, können die übrigen Abgeordneten derweil Kaffee holen, Pipi machen, frische Luft schnappen und dgl. Und die Stenografen gönnen sich ein Päuschen. Dies erfordert natürlich ein radikales Umdenken bei den etablierten Parteien, überkommene Verhaltensmuster müssen abgelegt und verkrustete Strukturen aufgebrochen werden. Doch selbst Claudia Roth, von der als Mitglied der Konfetti-für-alle-Partei Aufgeschlossenheit gegenüber unkonventionellen parlamentarischen Meinungsbekundungen zu erwarten wäre, reagierte rückständig, geradezu spießig: Statt Seitz das Un-Wort abzuschneiden und ihn wie einen dummen Jungen (setzen: 6!) auf seinen Platz zu verweisen, hätte sie ihm zusätzliche Schweigezeit einräumen sollen.

Tragisch, faustisch, deutsch - na ja, ganz so dolle kam der behäbig und einfältig wirkende Thomas Seitz nicht rüber. Dennoch sei ihm und der AfD ein Zitat ins Stammbuch geschrieben, aus „Doktor Faustus“, dem Roman über den Tonsetzer Adrian Leverkühn, der einen Pakt mit dem Teufel schließt und dadurch zugrunde geht, was Thomas Mann als Metapher dafür verwendete, dass die Deutschen sich mit Adolf Hitler und seinen Kumpanen eingelassen hatten: „Weistu was so schweig!“

¹Margaretha

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(12.12.2018)

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