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5.11.2006 (ergänzt 31.8.2022)

Stille Teilhaber

Zu den Schwärzungen siehe Recht so - weg mit der Meinungsfreiheit!
> Vierter Akt: Der Prozess > Zweite Szene: Nachtreten! > Absatz 2

und
> Dritter Akt: Unterlassen Sie das! > Zweite Szene: Es ist dringend! und Dritte Szene: Nicht kleckern, sondern klotzen > Absatz 1, Satz 1

Mit Rat und Tat im Ärzteblatt

Es liest sich auf den ersten Blick wie ein Haushaltstipp für sparsame Menschen: Der Autor klärt uns auf, wie man aus einer Rechtsschutzversicherung rausholt, was rauszuholen ist. Aber wir halten nicht das "Neue Goldene Blatt" in Händen, sondern das honorige "Deutsche Ärzteblatt", Heft 19 vom 12.05.2006. Und der Schreiberling heißt nicht Dr. Sommer, sondern xxxxxxxxxxxxxxxx, und ist nach eigenem Bekunden Rechtsanwalt in Frankfurt am Main. Respekt, denken wir uns da, auf solch hohem Niveau erfahren wir gern, wie man die Nachbarn wegen überhängender Zweige an die Wand prozessiert oder aus einem kleinen Kratzer eine Komplettlackierung macht. Doch nein, um solch Profanes geht es mitnichten. Lesen wir den ersten Absatz dieses bemerkenswerten Elaborats etwas genauer:

"Viele angehende Studenten wissen inzwischen, dass es Möglichkeiten gibt, einen Studienplatz auch mithilfe eines Gerichts zu erstreiten. Die Argumentation lautet, dass die Hochschule nicht so viele Plätze vergeben hat, wie es ihr bei optimaler Ausschöpfung ihrer Kapazitäten möglich gewesen wäre. Dabei gilt die Regel: Je mehr Hochschulen verklagt werden, desto größer ist die Chance, doch noch einen Studienplatz im betreffenden begehrten Fach, meist Medizin, zu erstreiten."

Der Abgrund der Vergangenheit

Jetzt fällt es uns wie Schuppen von den Augen, und wir stürzen ab in finstere Vorzeit: 18. Juli 1972, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verkündet ein Urteil (1 BvL 32/70, 25/71; BVerfGE 33, 303), das es in sich hat, eine monströse Missgeburt, die zu berüchtigtem Ruhm gelangen wird, eine schier bodenlose Büchse der Pandora, eine hochstrahlende AKW-Leiche von scheinbar unendlicher Halbwertszeit, welche die Hochschullandschaft über Jahrzehnte hinweg verseuchen wird: Das BVerfG postulierte darin das "grundrechtlich verbürgte Teilhaberecht" auf Zulassung zum Studium der Human- und Zahnmedizin, abgeleitet aus der in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz festgeschriebenen Freiheit der Berufswahl - und vollbrachte damit ein Wunder, ähnlich der Speisung der Zehntausend: Es verurteilte die beiden beklagten Hochschulen, den Klägern Studienplätze zu geben, obwohl es gar keine mehr gab, einfach nur so, weil die sich nun mal in den Kopf gesetzt hatten, Medizin zu studieren. Tatsächlich waren die von den Hochschulen bereitgestellten Studienplätze aber schon vergeben. Dies focht das BVerfG nicht an, hatte es doch herausgefunden, dass wir im Schlaraffenland leben, wo jeder mit Abitur einen Medizinstudienplatz bekommen können muss. Wie aber sollte das gehen, da doch die Anzahl der Studienplätze (wie alles auf der Welt) begrenzt ist? Um sich aus dieser selbst geschaffenen Bredouille zu befreien, dachte sich das BVerfG einen raffinierten Trick aus, durch den es die gerade ersonnene Quadratur des Kreises auf die Hochschulen abwälzte und sich selbst mit sauberen Fingern aus der kruden Lebenswirklichkeit in den Elfenbeinturm zurückzog: Es könnte doch sein - hähä! - dass die Anzahl der Studienplätze zu niedrig bemessen ist, weil die Hochschulen, deren Mitarbeiter demzufolge allesamt Idioten, Betrüger und Faulpelze sind, aus Dummheit und/oder Vorsatz nicht ihre gesamten personellen, räumlichen und sächlichen Ressourcen, d. h. ihre Ausbildungskapazität "erschöpfend genutzt" haben, um möglichst viele Studenten auszubilden. Diese erschöpfende Kapazitätsnutzung müsse gerichtlich kontrollierbar sein, und wenn die Hochschulen ihre ordnungsgemäße Erschöpfung nicht nachweisen können, müssen sie auf gerichtlichen Befehl eben zusätzliche Studenten aufnehmen - Lehre bis zum Abwinken.

Goldrausch

Dies war die Grundsteinlegung eines neuen Wirtschaftszweiges: Eine Handvoll Rechtsanwälte witterten eine nie versiegende Goldgrube und begannen von Stund an, alle 6 Monate die Hochschulen mit Gerichtsverfahren zu überziehen, um weitere Studienplätze herauszupressen. Und siehe da - die ersten zaghaften Versuche führten zu einem Blaumilchkanal-Effekt: Statt dieser Gelddruckmaschinerie in Gestalt organisierter Rechtspflege binnen kürzester Zeit Einhalt zu gebieten, ließ sich die Gesellschaft diese dreiste Wühlarbeit bis heute bieten. Und die Politik leistete all dem willfährig Vorschub, indem sie die Hochschulen durch die Kapazitätsverordnung mit haarsträubenden Berechnungsverfahren, welche so nah der Lebenswirklichkeit sind wie die Loriot'sche Steuerreform, die für 5-jährige Arbeitnehmer mit 126 Kindern gilt, in die Sackgasse trieb und den Rechtsanwälten auslieferte. Nur den Rechtsanwälten? Die allein könnten natürlich überhaupt nichts ausrichten. Mit von der Partie sind auch die Verwaltungsgerichte, die sich zu einem gleichermaßen verblüffenden wie erschreckenden Phänomen entwickelt haben: Sie sind nicht neutrale Instanz, sondern Teil des Systems, worin sie gemeinsam mit den Rechtsanwälten wie hyperaktive, verhaltensgestörte Bälger auf einem Abenteuerspielplatz, der immer wieder neue Entdeckungen bietet, herumtoben: "Hei, das macht Spaß! Und wenn wir was kaputtmachen - uns doch egal!" Das System "Kapazität" funktioniert so:

  1. Ein Rechtsanwalt stellt für einen Studienplatzinteressenten bei sämtlichen Hochschulklinika einen Antrag auf Zulassung "außerhalb" der Kapazität. Begründung: Die Hochschule verfüge über zusätzliche Studienplätze.

  2. Die Hochschule tut aufgrund dieses Antrags nichts.

  3. Gleichzeitig oder kurz nach dem an die Hochschule gerichteten Antrag auf Zulassung "außerhalb" der Kapazität stellt der Rechtsanwalt bei dem für die Hochschule örtlich zuständigen Verwaltungsgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ("Eilantrag"). Inhalt des Antrags: Zulassung "außerhalb" der Kapazität. Begründung: Die Hochschule verfüge über zusätzliche Studienplätze.

  4. Das Verwaltungsgericht fordert die Hochschule auf, diverse Angaben zu machen und diverse Unterlagen vorzulegen.

  5. Das Verwaltungsgericht fasst einen Beschluss. Inhalt: Die Kapazitätsberechnung der Hochschule sei mehr oder weniger falsch, und deshalb müsse die Hochschule 1 bis n zusätzliche Studenten aufnehmen. Dies habe die Hochschule durch eine Verlosung zu tun.

  6. Die Hochschule verlost unter sämtlichen Antragstellern die vom Verwaltungsgericht festgesetzte Anzahl zusätzlicher Studienplätze.

Na und, wird manch geneigter Leser fragen, was soll denn daran so unanständig sein? Schauen wir mal hinter die harmlose Fassade - hier tut sich eine andere Welt auf:

Nur wer nichts macht, macht auch nichts verkehrt

Wie kommen die Rechtsanwälte in ihren Anträgen eigentlich auf die Behauptung, sämtliche Hochschulklinika verfügten über zusätzliche Studienplätze? Welche konkreten Anhaltspunkte und Verdachtsmomente haben sie? Keine. Womit belegen sie diese Behauptung? Durch nichts. Und was erwarten die Rechtsanwälte von den Hochschulen? Was tun die Hochschulen aufgrund solcher Anträge? Nichts. Nanu, was ist denn das für ein eigenartiges Verfahren? Erst wird völlig unbegründet etwas beantragt, was es gar nicht geben kann, nämlich Studienplätze „außerhalb“ der Kapazität, und daraufhin geschieht nichts, und niemand erwartet etwas? Die Erklärung für dieses absolute Nichts: Die Anträge an die Hochschulen sind ein bloßes sinnentleertes Ritual. Was sollten die Hochschulen auch tun? Sollen sie aus allen Wolken fallen und erklären: "Hoppla, jetzt wo Sie es sagen, finden wir ja tatsächlich noch ein paar Studienplätzchen. Wo hatten die sich denn bloß versteckt, die kleinen Racker?" Und spaßeshalber angenommen, es wäre so: Wem unter den Hundertschaften von Antragstellern sollten die Hochschulen die nun glücklich wieder aufgetauchten Studienplätze geben? Hier wird somit Semester für Semester ein Antragsverfahren inszeniert, das überhaupt nicht durchführbar ist. Wie aber konnte so etwas entstehen? Die Bundesländer selbst - unmittelbare Träger der oder zumindest die Rechtsaufsicht über die Hochschulen ausübend - haben dies so geregelt und sich damit feige, verantwortungslos und illoyal gegenüber den eigenen Hochschulen aus der Affäre gezogen, z. B. in Niedersachsen in der Hochschulvergabeverordnung (HVVO, bis 30.11.2019) bzw. Hochschulzulassungsverordnung (NHZVO, ab 1.12.2019), in deren § 2 Abs. 2 bzw. § 20 Abs. 3 es heißt: "Falls eine Bewerberin oder ein Bewerber beabsichtigt, einen Studienplatz auf dem Gerichtsweg außerhalb des Zulassungsverfahrens und der festgesetzten Zulassungszahl zu erlangen, muss zuvor ein Aufnahmeantrag bei der Hochschule (...) eingegangen sein." Und hierdurch bekommt der Wahnsinn Methode: Was die Hochschulen aufgrund solcher Anträge tun sollen, verschweigt die NHZVO schamhaft, wohl wissend, dass die Hochschulen nichts tun können. Stattdessen unterstellt die NHZVO als nächsten Schritt sofort ein Gerichtsverfahren. Klingt harmlos? Ist es aber nicht: Auf diese Weise wurde vielmehr ein System geschaffen, das von vornherein davon ausgeht und darauf angelegt ist, dass Anträge gar nicht von der "Behörde" Hochschule bearbeitet werden und man sich nicht außergerichtlich einigt. Stattdessen wird vorausgesetzt, dass es auf jeden Fall zu einem Gerichtsverfahren kommen muss. Rechtsstaat und Zivilisiertheit beruhen aber darauf, dass Ansprüche und Streitigkeiten nach aller Möglichkeit außergerichtlich behandelt werden, wohingegen die Anrufung eines Gerichts immer die Ausnahme zu sein hat, wenn 's denn gar nicht mehr anders geht. Hier aber wird Prozesshanselei zur Normalform des gesellschaftlichen Verkehrs erklärt - welch Perversion des Rechtsstaats und des zivilisierten Gemeinwesens. Formalrechtlich ist die Regelung der NHZVO ein Verstoß gegen die Verwaltungsgerichtsordnung, die ein Gerichtsverfahren nur dann zulässt, sofern der Antragsteller sich zuvor erfolglos an die zuständige Behörde gewandt hat, diese seinen Antrag also abgelehnt oder in angemessenem Zeitraum nicht bearbeitet hat. Eine Bearbeitung durch die "Behörde" Hochschule ist aber nicht möglich, weshalb die Rechtsanwälte gar nicht darauf warten, sondern sich sofort unzulässigerweise ans Verwaltungsgericht wenden. Die Regelung der NHZVO zeigt, dass es sich hier nicht um den Rechtsweg in Einzelfällen handelt, sondern um ein laufendes alternatives Vergabeverfahren, in dem die Verwaltungsgerichte nicht neutrale Instanz sind, sondern permanenter, unverzichtbarer Teil des Systems.

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Muss aber wenigstens der beim Verwaltungsgericht gestellte Eilantrag mehr Fleisch auf den Rippen haben? Rhetorische Frage, zu erwartende Antwort: Natürlich nicht. Die Rechtsanwälte brauchen nur ihr Standardsprüchlein über angeblich unkorrekte Kapazitätsberechnungen (die sie natürlich überhaupt nicht kennen) und - man muss sich diesen Blödsinn mal bildlich vorstellen - "verschwiegene", "versteckte" Studienplätze abzusondern, und ein eingespielter Automatismus wird in Gang gesetzt. Beweise für ihre hanebüchenen Behauptungen brauchen die Rechtsanwälte nicht im Mindesten vorzulegen. Wie aber ist das möglich? Wenn Schmidt Schulze beim Amtsgericht verklagt, weil der ihm 1000 Euro schulde, muss er diesen Anspruch doch auch beweisen. Die Rechtsanwälte aber nicht. Sie nutzen stattdessen einen in verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltenden Mechanismus aus, ohne den dieses ganze System nicht funktionieren würde: der Amtsermittlungsgrundsatz, welcher besagt, dass im Gegensatz zu zivilrechtlichen Streitigkeiten das Verwaltungsgericht den Sachverhalt "von Amts wegen erforschen" muss. "Dies bedeutet aber nicht, dass das Gericht, einem Untersuchungsrichter gleich, ohne jeden Hinweis der Parteien Sachverhaltsermittlungen anstellen müsste" (Johlen u. a.: Münchener Anwaltshandbuch Verwaltungsrecht, C. H. Beck, 2. Auflage, 2003) - im System "Kapazität" aber schon. Der normalerweise sinnvolle Amtsermittlungsgrundsatz wird hier jedoch missbraucht und verbogen, um ein unaufhörliches, Perpetuum-mobile-artiges, industrialisiertes Fließbandverfahren zu ermöglichen, bei dem es nicht um Mindesten um Recht und Unrecht geht.

In der wirklichen Wirklichkeit wird ein Gerichtsverfahren - sei es Zivilrecht, Sozialrecht, Verwaltungsrecht - im Einzelfall durchgeführt, weil jemand meint, ihm sei von einem anderen Unrecht zugefügt worden (z. B. Verursachung eines Sachschadens, Ablehnung einer Rente, Ablehnung eines Bauantrags), und man sich nicht außergerichtlich einigen kann. Das Gericht fungiert als neutrale Instanz und stellt nach besten Wissen und Gewissen das verletzte Recht wieder her (oder stellt fest, dass kein Unrecht vorliegt). Wollte man sich für einen Moment dumm stellen ("Wat is en Kapazitätsverfahren?"), müsste man folglich annehmen, dass sämtliche 35 deutschen Universitätsklinika alle 6 Monate im immer gleichen Zusammenhang - vielleicht sogar vorsätzlich - Unrecht begehen und die Verwaltungsgerichte aufgrund dessen das Recht wiederherstellen müssen. Dies wäre so, als wenn z. B. regelmäßig bei jeder politischen Wahl Wahlbetrug, Parteilichkeit, Fälschung des Ergebnisses und andere Verfehlungen begangen würden, und hernach müsste jedes Mal ein Verwaltungsgericht diesen antidemokratischen Schweinestall wieder säubern, und das Ganze in unschöner Regelmäßigkeit seit Jahren und Jahrzehnten. Würden die Gesellschaft und der Rechtsstaat dies hinnehmen und sich gefallen lassen, dass das Recht permanent mit Füßen getreten und dadurch nach und nach der Boden der Republik immer brüchiger wird? Natürlich nicht. Vielmehr würde bereits nach dem zweiten und dritten Vorkommnis ein Aufschrei durch die Gesellschaft gehen, und der Rechtsstaat würde sämtliche Mittel einsetzen, um diesen völlig inakzeptablen Zustand ein für allemal zu beenden, da würde Tabula rasa gemacht, und es würden Köpfe rollen und Stühle frei werden. Was aber geschieht angesichts des bitteren Unrechts, des andauernden Rechtsbruchs durch die Hochschulen? Nichts. Und warum nicht? Weil die Hochschulen natürlich kein Unrecht und keinen Rechtsbruch begehen. Vielmehr geht es hier ausschließlich darum, sich Studienplätze am regulären Vergabeverfahren vorbei zu erschleichen. Wenn es also gar nicht um Recht und Unrecht geht, sondern nur um Begehrlichkeiten, was haben dann die Verwaltungsgerichte damit zu tun?

Die von den Rechtsanwälten beim Verwaltungsgericht eingereichten Anträge sind also faktisch keine substanziierten prozessualen Einzelfall-Anträge, sondern bloße Anmeldungen zur Teilnahme an einem Massen-Event. Warum aber ist hierfür die profunde Sachkenntnis versierter Rechtsanwälte erforderlich? Ist sie gar nicht. Um es klar zu sagen: Wer so unbedarft ist, zum Ausfüllen eines Formulars, in das kaum mehr als Name und Anschrift einzutragen sind, für viel Geld einen Rechtsanwalt zu engagieren, hat es auch nicht besser verdient. Natürlich offenbaren die Rechtsanwälte ihren juvenilen Mandanten und deren Eltern nicht, dass sich ihre Tätigkeit in diesem bestens einstudierten Marionettengehampel darauf beschränkt, stapelweise Serienbriefe mit immer gleichen gebetsmühlenartigen Textbausteinen zu produzieren, womit sie sich Semester für Semester goldene Nasen verdienen - und weniger gut betuchte Familien auch schon mal an den Rand des finanziellen Ruins treiben. Insofern ist der gar fürsorgliche Hinweis des Ärzteblatt-Autors auf die Rechtsschutzversicherung - verxxxxxt mit dreister Eigenwerbung - an Zynismus nicht mehr zu überbieten. Enrichissez-vous! Die Gesellschaft und der Staat sind ein Selbstbedienungsladen und dazu da, ausgeplündert zu werden - und bezahlen tut alles die Versicherung. Welch rührende, kleinkariert-asoziale Spießermentalität. Das System "Kapazität" ist auch Ausdruck und Produkt einer illoyalen Gesellschaft, die keinen inneren Zusammenhalt hat und sich selbst fremd ist, in der Werte und Regeln nur dann gelten, wenn sie dem eigenen Vorteil nutzen.

Kontaktanzeige

Wie akquirieren die Rechtsanwälte eigentlich ihre Mandanten, wie geraten diese in deren Fänge? Zum Beispiel durch Annoncen in der "ZVS-Info" (später „hochschulstart.de - Das Magazin zur Studienplatzbewerbung“, 2013 eingestellt). Wie bitte, im Mitteilungsblatt der „Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen“ (inzwischen „Stiftung für Hochschulzulassung“), einer gemeinsamen Einrichtung der Bundesländer, wird dafür Reklame gemacht, wie man die Hochschulen in die Pfanne haut? Nicht zu glauben, aber wahr: Von den rd. 80 Werbeanzeigen in der "ZVS-Info" Wintersemester 2006/07 stammen 35 von Rechtsanwälten, die sich für "Studienplatzklagen" andienen. Die schönste dieser Anzeigen, denen allesamt ein gewisser nuttig-schmuddeliger Charme durchaus nicht abzusprechen ist, stammt von einem Rechtsanwalt namens xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx, der sich nicht entblödet, damit zu prahlen, selbst an einer Berliner Hochschule zu lehren. Man darf getrost davon ausgehen, dass solch ein Mitarbeiter, der den eigenen Konzern permanent mit Gerichtsverfahren überzieht, bei Karstadt und VW schon längst hochkant hinausgeworfen worden wäre. Aber die Hochschulen lassen sich alles gefallen, auch deshalb funktioniert dieses System seit 50 Jahren so reibungslos. Die zweitbeste Anzeige ist ein von tiefer Solidarität durchdrungenes Gemeinschaftswerk mehrerer Rechtsanwälte unter der Überschrift "Rechtsanwälte gegen numerus clausus". Boah ey, hier stehen die Rächer der Enterbten wie ein Fels in der Brandung, bereit, dem Feind die Stirn zu bieten und sich für die unterdrückten Massen NC-Geschädigter selbstlos aufzuopfern. Mal abgesehen davon, dass "Numerus" großgeschrieben wird, ist diese Parole noch um Längen dämlicher als "'Bild' kämpft für Sie" - und vor allem ungleich heuchlerischer: Der Numerus clausus ist vielmehr ein Geschenk des Himmels für die Rechtsanwälte, und die meisten dieser Kanzleien würden von heute auf morgen zusammenbrechen, wenn es den NC und das System der "Studienplatzklagen" nicht mehr gäbe.

Die ZVS, auf den Skandal dieser Anzeigen angesprochen, würde wahrscheinlich mit hochgezogenen Augenbrauen darauf hinweisen, dass es sich hierbei um Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz) handele. Und außerdem handele es sich um Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz). Und außerdem gehöre Werbung zum Handwerk und somit zur freien Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz). Schon gut, ich sag ja gar nichts mehr. Im Übrigen sei dahingestellt, inwieweit die Rechtsanwälte aufgrund anderer, weniger öffentlicher Datenflüsse an potenzielle Mandanten herankommen.

Konkurrenz belebt das Geschäft

In rauen Mengen werden Mandanten von den einzelnen Rechtsanwälten abgefertigt. Die meisten vertreten Dutzende bis Hunderte gleichzeitig - und xxxxxxx dadurch xxx xxxxxx xx xxxxxxxx, denn die Mandanten eines Rechtsanwalts verfolgen wohlgemerkt nicht ein gemeinsames Ziel, sondern jeder für sich ein höchstpersönliches. Es ist aber von vornherein klar, dass nicht annähernd sämtliche Mandanten einen zusätzlichen Studienplatz bekommen können. Vielmehr sinken die Chancen des einzelnen Mandanten, je mehr andere sein Rechtsanwalt vertritt. Somit befindet sich jeder Mandant eines Rechtsanwalts in Konkurrenz zu sämtlichen anderen desselben Rechtsanwalts. Dieser darf aber nicht xxxxxx xxx xxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxx xxx xxxxx xxxxxxxxxxxxx xxxxxx xxx xxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxx xxx xxxxx xxxxxxxxxxxxx.

Viel Wenig macht ein Viel

Dass es sich bei der Behauptung, die Hochschulen hätten "verschwiegene", "versteckte" Studienplätze gebunkert (weshalb eigentlich?), eben nur um eine leere Behauptung handelt, gesteht der Ärzteblatt-Autor in dem eingangs zitierten Absatz selbst ein, indem er äußert, "die Argumentation lautet, dass die Hochschule nicht so viele Plätze vergeben hat" usw. Warum sagt dieser Herr nicht klipp und klar: "Die Hochschule hat nicht so viele Plätze vergeben"? Natürlich, weil er selbst am besten weiß, dass dem nicht so ist und dass er nichts weiß - eben nur eine ritualhafte Phrase. Und mit rührender Unbefangenheit äußert er, man könne sich solche Top-secret-Studienplätze "mithilfe" eines Gerichts unter den Nagel reißen, so wie man Spiegeleier mithilfe einer Bratpfanne zubereitet. Hierdurch degradiert er die Verwaltungsgerichte zu bloßen Werkzeugen (und trifft damit leider den Nagel auf den Kopf). Irgendwie peinlich scheint dem Autor zu sein, dass es sich hierbei um eine seit fünf Jahrzehnten auf Hochtouren laufende Maschinerie handelt. Anders ist die alberne Formulierung nicht zu verstehen, "Viele angehende Studenten wissen inzwischen" usw., als wäre dies erst in jüngster Zeit bekannt geworden und in Mode gekommen. Aber wir wollen nicht immer nur meckern, denn zur Entspannung gönnt uns der Autor sodann Aphorismen zur Lebensweisheit, indem er mit kindlichem Ernst erläutert, dass die Chancen sich erhöhen, je mehr Hochschulen vor Gericht gezerrt werden. Diese "Regel" lässt sich mühelos auf manch andere Gegebenheiten übertragen, z. B.: "Je mehr Läden abgeklappert werden, desto größer ist die Chance, doch noch das begehrte Schnäppchen zu erwischen." Oder: "Je mehr Banken ausgeraubt werden, desto größer ist die Chance, doch noch die begehrte Riesenbeute zu ergattern." Vielen Dank, Herr Rechtsanwalt, für diese fundamentale Erkenntnis.

Wir wollen Daten, Daten, Daten!

Zurück zum weiteren Verfahrensablauf: Ohne sich inhaltlich mit den Eilanträgen zu befassen (wie auch, mangels Substanz), waltet das Verwaltungsgericht seines Amtsermittlungsgrundsatzes und fordert zu einem rituell wiederkehrenden Termin die Hochschule auf, diverse Angaben zu machen und Unterlagen vorzulegen. Stil und Inhalt dieser Aufforderung erinnern an eine staatsanwaltliche Einvernahme gegenüber einem Unternehmen, dem Betrug, Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit, betrügerischer Bankrott, Gammelfleischverkauf, Hochverrat und Schlimmeres vorgeworfen wird. Wie paranoide Stasi-Offiziere wähnen die Verwaltungsgerichte überall andauernd Unrat, Hinterhalte und Verschwörung seitens der Hochschulen. Es ist erstaunlich und bedrückend, mit welch selbstverständlicher Ergebenheit die Hochschulen diese allhalbjährliche Demütigung durch verwaltungsgerichtliche Arroganz über sich ergehen lassen.

Die eingeforderten Unterlagen bestehen aus Kapazitätsberechnungen nach Maßgabe der schon erwähnten Kapazitätsverordnung und nach Vorgaben des Verwaltungsgerichts, internen Wirtschafts- und Stellenplänen bis hin zu Arbeitsverträgen des wissenschaftlichen Personals. Und all diese Unterlagen gibt das Verwaltungsgericht in Kopie an die Rechtsanwälte weiter, die auf diese Weise vertiefte Einblicke in vertrauliche betriebliche Informationen und persönliche Angaben zu Mitarbeitern erhalten. Datenschutz? Nein, danke! In diesem System haben die Regeln des wirklichen Lebens noch nie gegolten. Die Absurdität geht so weit, dass die Hochschulen nicht nur ohnehin vorhandene Unterlagen beibringen, sondern sogar eigens für die Verwaltungsgerichte Unterlagen erzeugen müssen, die sie für betriebliche Belange selbst gar nicht benötigen, nach Kriterien, die mit der Wirklichkeit eines modernen Hochschulbetriebs nicht das Geringste zu tun haben. Aber die Wirklichkeit ist wirklich das Allerletzte, was die Verwaltungsgerichte interessiert. Deren Realitätsferne und Anmaßung erzeugen in den Hochschulen einen administrativen Wasserkopf, den sich kein Wirtschaftsunternehmen leisten könnte (und gefallen lassen würde) - die Hochschulen aber nehmen es klaglos hin. All dies erfordert einen immensen personellen Aufwand, durch den nichts Produktives geschaffen wird, sondern der einzig und allein dazu dient, sich gegenüber den Angriffen der Rechtsanwälte und ihrer Gerichts-Vollzieher zu rechtfertigen, was natürlich niemals gelingt, weil es niemals gelingen darf - anderenfalls würde das System ja zusammenbrechen. So schwingen sich die Verwaltungsgerichte zur obersten Betriebsleitung auf.

Es ist völlig unbegreiflich, weshalb die Hochschulen sich und ihre Arbeit von den Rechtsanwälten und Verwaltungsgerichten (und der Politik!) auf dieses klein-kleine Erbsenzähler-Niveau herabzerren und dort festnageln lassen. Haben die Hochschulen überhaupt kein Selbstverständnis und Selbstwertgefühl, haben sie keine Würde, keinen Stolz? Ist es vorstellbar, dass privatwirtschaftliche Betriebe es klaglos hinnehmen würden, seit 50 Jahren alle 6 Monate mit tausenden Gerichtsverfahren überzogen und ausgeplündert zu werden? Natürlich nicht. Wie aber ist es möglich, dass die Hochschulen dies tun? Ich finde nur eine einzige Erklärung: öffentlicher Dienst - die Finanzierung des Betriebes kommt vom Himmel gefallen, die Arbeitsplätze sind sicher, und um 16.00 Uhr ist Feierabend. Je mehr Zeit seit 1972 vergangen ist, desto unglaubwürdiger und lächerlicher ist die unablässig wiedergekäute Ausrede, das sei nun mal so, da lasse sich nichts machen. Dieses fadenscheinige Geplappere ist so realistisch, wie wenn 1972 behauptet worden wäre, auf ewig müsse ein Verfahren angewandt werden, das seit 50 Jahren, also seit 1922, existiert.

Die SED-Diktatur wurde nach 44 Jahren in der Jauchegrube der Geschichte versenkt.

Hexenkessel

Mit diesen Unterlagen bewaffnet, ziehen sich drei Richter des Verwaltungsgerichts in Klausur zurück, geheimnisumwittert und mythenumweht gleich einer Papstwahl, wie diese wohl nur auf göttlicher Eingebung beruhend. Mündliche Verhandlungen finden nicht statt, das würden die Rechtsanwälte bei 35 Verwaltungsgerichten zeitlich gar nicht schaffen, die Hochschulen haben ohnehin den Schnabel zu halten, und Inhalte spielen von vornherein keine Rolle. So versucht der ferne, ausgeschlossene Beobachter, sich auszumalen, wie der hochmögende Entscheidungsfindungsprozess wohl vonstatten geht, und vor seinem inneren Auge erstehen verschwommene Bilder einer modrigen Hexenküche, wo in einem eklig brodelnden Kessel sämtliche Zahlen, Daten, Formeln und Berechnungen durcheinandergerührt und zusammengekocht werden: "Du mußt verstehn!/ Aus Eins mach Zehn,/ Und Zwei lass gehn,/ Und Drei mach gleich,/ So bist du reich./ Verlier die Vier!/ Aus Fünf und Sechs,/ So sagt die Hex,/ Mach Sieben und Acht,/ So ist 's vollbracht:/ Und Neun ist Eins,/ Und Zehn ist keins./ Das ist das Hexen-Einmaleins!" Wenn dieses giftige Gebräu einer verzerrten, künstlichen Realität endlich fertig ist und der Sud in einer Stichflamme aus dem Kessel zischt, dann ist alles Normale ungültig und das Unterste zuoberst gekehrt: "Fair is foul and foul is fair". Und nachdem die Hexen für diesmal genug Unheil angerichtet haben, verabreden sie sich gleich zu neuen Schandtaten: "Wann treffen wir drei uns das nächste Mal?" - dumme Frage, natürlich ein Semester später.

Profanes Ergebnis, ganz ohne Brimborium und weißen Rauch, ist ein mehrere Dutzend Seiten langer Beschluss des Verwaltungsgerichts, worin es völlig beliebig die Gesamtzahl der Studienplätze der Hochschule und somit die Anzahl zusätzlicher Studienplätze festlegt, Studienplätze, welche die Hochschule angeblich noch unterm Kopfkissen hat, obwohl sie selbst davon bislang nichts wusste. Mal sind es 10, mal 50, mal 100, für die Hochschule gänzlich unvorhersehbar und nicht nachvollziehbar, nach Regeln, die vom Verwaltungsgericht immer wieder neu festgelegt werden und denen die Hochschule wehrlos ausgeliefert ist. Früher nannte man so etwas Femegericht.

Wir sitzen alle im selben Boot

Kleiner Jux am Rande: Das Verwaltungsgericht produziert wohlgemerkt nur einen einzigen Beschluss, nicht für jeden Antragsteller einen, also nicht mehrere Hundert. Diese drastische Verringerung des Verwaltungsaufwands ist angesichts leerer öffentlicher Kassen überaus löblich. Nicht ganz so schön ist allerdings, dass auf diese Weise jeder einzelne Antragsteller erfährt, wer die übrigen 999 Antragsteller sind, mit Vor- und Nachname, Privatanschrift und mit teilweise hochinteressanten persönlichen Details. Datenschutz? Aber das hatten wir ja schon.

Grundrechte sind echt total voll geil!

So weit, so gut? Ganz und gar nicht - jetzt kommt des Pudels Kern: Wir erinnern uns, jeder Interessent ließ durch seinen Rechtsanwalt beim Verwaltungsgericht beantragen, einen Studienplatz zu erhalten. Folglich müsste das Verwaltungsgericht punktgenau entscheiden, ob jeder einzelne Antragsteller einen Studienplatz erhält oder nicht. Dies aber entscheidet das Verwaltungsgericht keineswegs. Wie könnte es auch, nach welchen Kriterien? Stattdessen legt es in seinem Beschluss fest, wie viele zusätzliche Studienplätze die Hochschule angeblich noch in petto hat. Was aber hat das mit dem Antrag des einzelnen Antragstellers zu tun, einen Studienplatz zu erhalten? Nicht das Geringste. Das ist vielmehr so, als wenn man am Schalter eine Eintrittskarte kaufen möchte und zur Antwort erhält: "Das Kino hat 123 Plätze, und die Vorstellungen beginnen alle 2 Stunden." Die gerichtliche Feststellung, dass angeblich eine gewisse Anzahl zusätzlicher Studienplätze vorhanden seien, ist natürlich kein Beweis dafür, dass der einzelne Antragsteller einen Anspruch auf einen dieser Plätze hat. Genau genommen hat der vermeintliche Anspruch des einzelnen Antragstellers überhaupt nichts mit der Frage zu tun, ob die Hochschule zusätzliche Studienplätze hat. Tatsächlich interessiert den einzelnen Antragsteller auch gar nicht, wie viele Studienplätze eine Hochschule anbietet, ob deren Kapazitätsberechnung korrekt ist und ob es "verschwiegene", "versteckte" Studienplätze gibt. All diese Konstrukte und Argumente sind nur mit pathetischer Pose vorgeschoben, um sich einen Studienplatz zu besorgen, obwohl es keine mehr gibt. Wenn die Rechtsanwälte, die das Grundgesetz alle 6 Monate zum Anschaffen auf den Strich schicken, von Grundrechten faseln, um die bloße Anspruchshaltung ihrer Mandanten zu kaschieren, und die Verwaltungsgerichte dies brav nachplappern, dann ist das nichts weiter als obszöne, feixende Heuchelei.

Das Allgemeine im Besonderen (und umgekehrt)

So ist Inhalt des Beschlusses des Verwaltungsgerichts demnach etwas, was gar nicht Inhalt des einzelnen Antrags war, sondern nur dessen "Begründung", nämlich die Behauptung, es seien zusätzliche Studienplätze vorhanden. Dieses verkniffene Gebaren des Verwaltungsgerichts ist ohne Weiteres verständlich, und hier schließt sich der Kreis zu dem an die Hochschule gerichteten Antrag, der ja auch nicht bearbeitbar war: Über den verwaltungsgerichtlichen Antrag kann nicht nur nicht entschieden werden, sondern dies ist auch gar nicht erforderlich, denn niemand - nicht die ZVS, nicht die vor krimineller Energie und Menschenverachtung strotzenden, niederträchtigen Hochschulen - bestreitet, dass die Antragsteller, da sie Abitur haben, grundsätzlich berechtigt sind, einen Studienplatz zu erhalten. (Bevor sich jetzt manch Rechtsanwalt und Verwaltungsrichter süffisant die Hände reibt: Diese Berechtigung ist nicht gleichzusetzen mit einem Anspruch infolge des angeblichen Teilhaberechts. Es ist auch jeder grundsätzlich berechtigt, in einer Pizzeria zu essen. Wenn aber sämtliche Tische besetzt sind, kann man nichtsdestoweniger nicht hinein. Einen Anspruch, sich dennoch mittels Ellbogen an einen Tisch zu drängeln und dadurch die bisherigen Gäste zu stören und den Betrieb durcheinanderzubringen, gibt es jedoch nicht.)

Wenn jemand beim Sozialgericht klagt, um Erwerbsunfähigkeitsrente zu erhalten, dann muss er diesen Antrag an sich beweisen (weil er z. B. so schlimme Schmerzen im Kreuz hat, dass er künftig nur noch seinen Schrebergarten beackern kann). Der Kläger kann seinen Antrag aber nicht mit der Behauptung beweisen, die Rentenversicherung habe noch "verschwiegene", "versteckte" Reserven in Milliardenhöhe. Selbst wenn dies zuträfe, hätte dies nicht zur Folge, dass der Kläger eine Rente bekäme, denn der Antrag des Klägers ist ein höchstpersönlicher, während die etwaigen Reserven eine allgemeine Frage sind. Vielmehr prüft das Gericht den Antrag anhand von Attesten und Gutachten und urteilt aufgrund dessen, ob dem Kläger eine Rente zusteht oder nicht. Sowohl der Antrag (Erwerbsunfähigkeitsrente) als auch die Begründung dieses Antrags (Rückenbeschwerden) als auch das Urteil des Gerichts (Rente ja oder nein) betreffen höchstpersönliche Fragen. Das Verfahren ist also konsistent.

Ein Antragsteller im System "Kapazität" hingegen kann seinen höchstpersönlichen Antrag gar nicht beweisen, weil es nichts Höchstpersönliches wie Rückenbeschwerden als Beweismittel gibt. Dieses wiederum gibt es deshalb nicht, weil etwas beantragt wird, was dem Antragsteller gar nicht aus höchstpersönlichen Gründen versagt wurde. Die ZVS hatte ja nicht eine höchstpersönliche Ablehnung ausgesprochen, dem Antragsteller einen vorhandenen Studienplatz zu gewähren, so wie die Rentenversicherung es ablehnt, einem Antragsteller Erwerbsunfähigkeitsrente zu gewähren, weil er kerngesund ist. Vielmehr konnte die ZVS dem Antragsteller keinen Studienplatz geben, weil es keine mehr gab. Da also der höchstpersönliche Antrag gegenüber dem Verwaltungsgericht von vornherein unsinnig ist, befasst sich das Verwaltungsgericht auch gar nicht damit, sondern weicht sofort aus zu der Frage, wie viele Studienplätze die Hochschule angeblich tatsächlich hat. Diese Frage ist aber keine höchstpersönlich den Antragsteller betreffende, sondern eine allgemeine und hat deshalb mit dem Antrag so wenig zu tun wie die Frage der Geldreserven mit dem Rentenantrag.

Auf los geht 's Los

Das Verwaltungsgericht hat also - Hokuspokus - die Begründung des einzelnen Antrags zum Inhalt des Verfahrens und damit zum Ergebnis des Beschlusses gemacht. Mit diesem Beschluss aber kann der einzelne Antragsteller bei genauer Betrachtung gar nichts anfangen. Das weiß natürlich auch das Verwaltungsgericht und zieht sich elegant aus der Affäre, indem es die Hochschulen von hinten durch die Brust ins Auge schießt: Eigentlich hätten sämtliche Antragsteller per se Anspruch auf einen Studienplatz, weil sie nämlich Abitur haben. Wow, welch völlig unerwartete, überraschende Erkenntnis! Aber dafür braucht man eigentlich kein Verfahren beim Verwaltungsgericht durchzuführen, das ergibt sich vielmehr seit eh und je aus dem angeblichen Teilhaberecht. Und welche Antragsteller sollen denn nun faktisch einen der zusätzlichen Studienplätze erhalten? Das weiß das Verwaltungsgericht auch nicht, bzw. es ist zu faul, feige und desinteressiert, eine wie auch immer geartete Auswahl zu treffen und damit plötzlich reale Verantwortung zu übernehmen. Also greift es in seiner Not zu einer Methode, für deren Entdeckung man zweifellos Jura studiert haben muss: Verlosung. Wie bitte, dieses ganze Gedöns mit Anträgen an die Hochschule, Anträgen ans Verwaltungsgericht, hochnotpeinlicher Einvernahme der Hochschule und gerichtlichem Konklave hat nur zum Ergebnis, dass eine Lotterie veranstaltet wird? Was für ein Berufsethos haben Verwaltungsrichter eigentlich? Verstehen sie sich als Juristen oder als Kaffeesatz lesende Zahlenmystiker und Losbudenbetreiber auf einer Dorfkirmes? Regt euch bitte nicht auf, geneigte Leser, sondern haltet euch immer vor Augen, dass wir uns hier nicht in der wirklichen Wirklichkeit befinden, sondern im System "Kapazität" - und hier ist eben das Unmögliche möglich. Aber eigentlich haben die Antragsteller doch ebenso wenig beantragt, an einer Lotterie teilnehmen zu dürfen. Von Rechts wegen müsste das System spätestens an dieser Stelle infolge verschärfter Inkonsistenz zusammenbrechen, und jeder Rechtsanwalt würde sich in der wirklichen Wirklichkeit gegen ein solches gerichtliches Vorgehen wenden. Aber Zweck dieses Systems ist nun mal nicht Rechtsstaatlichkeit, sondern das Fortbestehen des Systems. Einige Rechtsanwälte, die sich für besonders oberschlau halten, haben die Gefahr des Zusammenbruchs erkannt, und panikartig beantragen sie daher neuerdings, dass ihre Mandanten "hilfsweise" an einer Verlosung teilnehmen dürfen. Dieser Antrag ist jedoch von geradezu rührender Dümmlichkeit und Unglaubwürdigkeit, denn es möchte auch niemand Lotto spielen, sondern jeder möchte zig Millionen cash auf die Kralle.

Alle sind gleich (aber einige sind gleicher)

Die zusätzlichen Studienplätze zu verlosen ist nicht nur prozessual weit unter RTL2-Niveau, sondern hat ganz unbemerkt noch eine schier unglaubliche inhaltliche Folge: Unter den Antragstellern wird keine Auswahl mehr nach Qualifikation getroffen (was auch einen eklatanten Verstoß gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.1972 darstellt, worin gefordert wurde, dass die Auswahl der Bewerber nach "sachgerechten Kriterien" zu erfolgen habe). Natürlich ist das bisherige ZVS-Verfahren, nur die Abiturnote als Auswahlkriterium zu verwenden, alles andere als das Gelbe vom Ei, aber immer noch sachgerechter als die Schuhgröße oder die Fähigkeit, auf einem Bein zu hüpfen. An dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren haben Antragsteller mit der ganzen Bandbreite an Abiturnoten ab etwa 2,0 teilgenommen, und diese nehmen sämtlich an der Verlosung teil. Auf diese Weise kommen plötzlich auch Interessenten mit Abiturnote 4,0 zu einem Medizin- oder Zahnmedizinstudienplatz. Die bei der ZVS erforderliche Abiturnote für Humanmedizin z. B. im Wintersemester 2006/07 betrug hingegen je nach Bundesland 1,0 bis 1,4. Was denken sich wohl diejenigen Studienanfänger, die auf - ich hätte beinahe gesagt: legalem, aber ich nenne es mal: - regulärem Wege einen Studienplatz erhalten haben und sich hierfür unter großen Anstrengungen ein Einser-Abitur erarbeiteten, wenn plötzlich einige Monate nach Semesterbeginn solche Luschen auftauchen? Hier entlarvt sich das System selbst in seiner ganzen Peinlichkeit und Unmoral, denn klar ist, dass die meisten der durch die Hintertür Gekommenen auch dann keinen Studienplatz erhalten hätten, wenn die Hochschulen von vornherein freiwillig mehr Studienplätze zur Verfügung stellen würden, weil deren Abiturnoten schlichtweg nicht ausreichen. So wird offenbar, dass es hier nicht um arme Hascherl geht, denen die bösen Hochschulen einen Studienplatz vorenthalten und die sich deshalb auf dem Rechtsweg gegen diese Willkür wehren müssen, sondern um junge Menschen, die sich an allen Regeln und unvermeidlichen Beschränkungen der Wirklichkeit vorbeimogeln wollen. In diesem System geht es ausschließlich um elitären Egoismus auf Kosten der Allgemeinheit. Und das seit Anbeginn: Die Kläger in den Verfahren, die zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.1972 führten, hatten - lebende Satire - beide eine Abiturnote von 3,25.

Verteilungskrampf

Wenn die Verwaltungsgerichte auch nur einen Funken Realitätsbezug und Verantwortungsbewusstsein hätten, dann müsste Inhalt ihrer Beschlüsse sein, dass die angeblich zusätzlich vorhandenen Studienplätze ebenfalls durch die ZVS und/oder in hochschuleigenen Auswahlverfahren vergeben werden. Dies aber wäre ein Schritt aus dem System heraus in die wirkliche Wirklichkeit, in die Normalität und würde demnach zwangsläufig erfordern, dass nicht nur die verwaltungsgerichtlichen Antragsteller, sondern sämtliche Interessenten, die sich ursprünglich bei der ZVS bewarben, in diese Verteilung der zusätzlichen Studienplätze einbezogen werden. Dies wäre nicht nur ein Gebot der bloßen Fairness, sondern auch systematisch unumgänglich, denn die Verwaltungsgerichte entscheiden in ihren Beschlüssen ja nicht darüber, ob ein einzelner Antragsteller Anspruch auf einen Studienplatz hat, sondern darüber, wie viele Studienplätze in einer Hochschule insgesamt vorhanden seien. Und die Verwaltungsgerichte sagen natürlich nicht, dass die Differenz zwischen den bislang von einer Hochschule angebotenen und den gerichtlich festgelegten Studienplätzen - also die angeblich zusätzlichen - allein den verwaltungsgerichtlichen Antragstellern vorbehalten seien. Die Gesamtzahl der Studienplätze einer Hochschule - gleichgültig, ob von dieser selbst oder vom Verwaltungsgericht festgelegt - ist aber allgemeingültig, nicht nur für einen bestimmten Personenkreis. Dies ergibt sich auch von vornherein - höhö! - aus dem angeblich allen Abiturienten wie ein Naturrecht zustehenden Teilhaberecht.

Um das weiter oben verwendete Beispiel abzuwandeln: Angenommen, jemand will gerichtlich feststellen lassen, dass der Rentenversicherungsbeitrag gesenkt werden müsse, und begründet dies damit, dass die Rentenversicherung kraft "verschwiegener", "versteckter" Milliardenüberschüsse im Gelde schwimme (so wie die Hochschulen in geheimen Studienplätzen). Kommt das Gericht zu dem Schluss, dass es tatsächlich Milliardenüberschüsse gibt und deshalb der Rentenversicherungsbeitrag gesenkt werden muss, dann gilt die Senkung nicht nur für den einen, der das Gericht angerufen hat, sondern selbstverständlich für sämtliche Beitragszahler. Dies deshalb, weil sowohl der Antrag (Senkung des Rentenversicherungsbeitrags) als auch die Begründung dieses Antrags (Milliardenüberschüsse) als auch das Urteil (Senkung ja oder nein) allgemeine Fragen betreffen. Das Verfahren ist also konsistent.

Ganz im Gegensatz zum maroden System "Kapazität" - eine mumifizierte Leiche, von den Rechtsanwälten und Verwaltungsgerichten alle 6 Monate neu geschminkt und ans Fenster gesetzt -, das nicht einmal in sich selbst schlüssig ist. Dennoch funktioniert es seit 50 Jahren, weil niemand aufsteht und es angreift.

Nach der Verlosung, mit der sich das Verwaltungsgericht natürlich nicht selbst die Hände schmutzig macht, weshalb die Hochschule sie durchführen muss, erhalten die Ausgelosten Zulassungsbescheide, und damit ist diese Runde abgeschlossen. Auf Wiedersehen im nächsten Semester!

Das bisher Gelernte

Resümee - das System ist krank in folgenden Punkten:

  1. Der Antrag an die Hochschule auf Zulassung "außerhalb" der Kapazität, also auf einen nicht vorhandenen Studienplatz, kann von der Hochschule nicht bearbeitet werden.

  2. Das System geht von vornherein davon aus, dass die Hochschule den Antrag nicht bearbeiten kann und daher zwangsläufig ein Gerichtsverfahren stattfinden muss.

  3. Es ist unzulässig, einen Antrag beim Verwaltungsgericht zu stellen, solange es keine zeitgerechte Bearbeitung durch die Hochschule gibt.

  4. Der Antrag beim Verwaltungsgericht kann von diesem nicht entschieden werden, da er auf etwas abzielt, was dem Antragsteller gar nicht verwehrt wurde.

  5. Der Amtsermittlungsgrundsatz wird missbraucht.

  6. Antrag, Begründung und Beschluss im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind nicht konsistent, weil Ersterer ein höchstpersönlicher ist, die beiden Letzteren aber eine allgemeine Frage betreffen.

  7. Der Beschluss, eine Verlosung durchzuführen, ist abwegig, da dies nicht beantragt wurde, bzw. wenn es beantragt wurde, ein solcher Antrag nur vorgeschoben ist.

  8. Die Verlosung führt dazu, dass auch solche Antragsteller einen Studienplatz erhalten, die aufgrund ihrer Abiturnote im Normalfall keinen erhalten könnten.

  9. Die Verwaltungsgerichte sind nicht neutrale Instanz, die in begründeten Einzelfällen Unrecht beseitigt und das Recht wiederherstellt, sondern sie sind Teil des Systems, um unaufhörlich ein alternatives Vergabeverfahren durchzuführen.

Gibt's nicht geht doch

Zugegeben, wird nun manch geneigter Leser sagen, das Verfahren ist verfahrensmäßig etwas verfahren, aber das sind letztlich nur formale Aspekte. Worauf es ankommt, ist das Teilhaberecht, und das gibt es doch unbestreitbar. Irrtum: Es gibt kein Teilhaberecht. Warum nicht? Gegenfrage: Warum sollte es das geben? Na, weil das Bundesverfassungsgericht das so festgelegt hat. Ja und, auch das Bundesverfassungsgericht kann irren, und zudem ändern sich gesellschaftliche Werte und Ziele. Das ist ja das Faszinosum: Während sich in den letzten 50 Jahren - mehr als zwei Drittel der Geschichte der alten und die komplette Geschichte der neuen Bundesrepublik - jeder gesellschaftliche und politische Sektor naturgemäß umfänglich verändert hat, sodass heute praktisch nichts mehr so ist wie 1972, steht das System "Kapazität" heute noch genauso da wie vor 50 Jahren. Sämtliche Veränderungen der wirklichen Wirklichkeit hat es unbeschadet überdauert. Dies war nur möglich, weil es sich in einem sorgsam gehegten und gepflegten künstlichen Biotop abspielt, einem hermetisch abgeschlossenen gesellschaftspolitischen Jurassic Park (die Betonung liegt auf Jura), in dem abgetakelte Dinosaurier rücksichtslos alles niedertrampeln und sich ihren unersättlichen Wanst vollfressen. Wann kommt der Meteoriteneinschlag? Dieses System ist autark und steuert sich selbst, indem es sich von sämtlichen gesellschaftlichen, rechtsstaatlichen und politischen Zusammenhängen losgelöst hat, ein Paralleluniversum, ein Schattenreich, verdorben von Geldgier, Kurzsichtigkeit, Würdelosigkeit, Egoismus, Illoyalität, Feigheit, Trägheit, Verantwortungslosigkeit, Kleinkariertheit, Realitätsverlust, Größenwahn, Arroganz - und dem völligen Fehlen verantwortungsvollen, politischen Denkens und Handelns.

Wir sind nicht in Arkadien geboren

Worum geht es bei dem angeblichen Teilhaberecht? Es bedeutet, dass jeder Abiturient einen Anspruch habe, zu jedem beliebigen Zeitpunkt jedes beliebige Studium zu betreiben. Die ergebe sich aus dem faktischen Monopol des Sozialstaates auf dem Gebiet des Hochschulstudiums und aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz: "Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen." Des Weiteren spiele der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz eine Rolle: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Damit scheint doch alles zu klar zu sein. Durchaus nicht:

Pikanterweise führt ausgerechnet die Bezugnahme auf den Gleichheitssatz das angebliche Teilhaberecht ad absurdum, denn die Gleichheit vor dem Gesetz ist nur im Falle der Berufsausbildung in Form eines Hochschulstudiums anwendbar, weil "der Staat" (bislang!) Träger der meisten Hochschulen ist. Was aber ist mit der Berufsausbildung in privatwirtschaftlichen Betrieben? Gibt es auch ein grundrechtlich verbürgtes Teilhaberecht auf Zulassung zur Ausbildung als Groß- und Außenhandelskauffrau und als Kraftfahrzeugmechatroniker? Natürlich nicht. Wen können die 16-Jährigen, die überhaupt keinen Ausbildungsplatz finden, verklagen? Natürlich niemanden. Was zwangsläufig zur Frage führt: Warum soll es angehenden Studenten besser gehen als angehenden Auszubildenden? Warum sollen "vom Staat" angebotene Ausbildungsmöglichkeiten einen anderen Stellenwert haben als von nichtstaatlichen Einrichtungen angebotene? Das Konstrukt vom Teilhaberecht an staatlichen Ausbildungsmöglichkeiten ist nicht einmal in sich selbst konsistent: Gibt es ein grundrechtlich verbürgtes Teilhaberecht an Plätzen in Hochschulen für bildende Kunst, für Musik, für Schauspiel? Die Ausbildung von Verwaltungsbeamten wird auch allein "vom Staat" angeboten. Gibt es deshalb ein Teilhaberecht? Tatsächlich verbirgt sich hinter dem großspurigen Gerede vom Recht auf Teilhabe an jeglichem Studienfach etwas ganz anderes (und deshalb passt so was Dubioses wie Schauspielerausbildung und so was Popliges wie Verwaltungsbeamtenausbildung nun gar nicht dazu). Das Teilhaberecht ist das Wechselbalg zweier gänzlich unterschiedlicher Elternteile: Zum einen war dies die verquaste Ideologie vom allfürsorglichen Wohlfahrtsstaat (typisch Siebzigerjahre). Zum anderen aber - schon 1972 längst überholte (oder vielleicht mit umgekehrtem Vorzeichen neu erstandene?) - elitäre Träumereien von der Hochschule als Jahrmarkt der Beliebigkeit, eine Insel der Seligen, das akademische Arkadien weit jenseits der gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Realität mit all ihren Notwendigkeiten und Beschränkungen, deren Maßstäben und Regeln enthoben.

Staats-Streich

Der starre Blick auf die Staatlichkeit - eigentlich das Kennzeichen einer unmodernen, nicht-offenen, autoritären Gesellschaft - geht im vorliegenden Zusammenhang zudem insofern fehl, als es gewissermaßen reiner Zufall ist, dass die meisten Hochschulen sich in staatlicher, das heißt in Trägerschaft der Bundesländer befinden. Dies muss keineswegs so sein, denn Berufsausbildung ist keine hoheitliche Aufgabe im eigentlichen Sinne wie z. B. die Erteilung von Baugenehmigungen und das Meldewesen. Nichtakademische Ausbildungen finden in Privatbetrieben und Behörden statt. Sind sie deshalb schlechter oder unwichtiger als akademische? Auch Hochschulen können ohne weiteres privat betrieben werden (siehe z. B. Witten/Herdecke), und die Beteiligung des Staates braucht sich nur darauf zu beschränken, in bestimmten Studiengängen die berufsqualifizierenden Abschlussprüfungen zu überwachen, so wie dies z. B. die öffentlich-rechtlichen Industrie- und Handelskammern hinsichtlich betrieblicher Ausbildungen tun. Wollte man systemimmanent ganz feinsinnig sein, könnte man im Übrigen die Frage stellen, ob Hochschulen, die sich nicht mehr in Trägerschaft eines Bundeslandes, sondern einer Anstalt oder Stiftung öffentlichen Rechts befinden, noch "dem Staat" im Sinne des 1972er Urteils gehören und damit überhaupt unter das angebliche Teilhaberecht fallen.

Abschied von gestern

Wie buchstäblich von gestern das angebliche Teilhaberecht ist, wird umso deutlicher, wenn man sich das historische Umfeld vor Augen führt, in dem dieses Konstrukt entstand: Im Jahr 1972 waren Bahn und Post noch rein staatliche Behörden mit dynamischem Beamtenapparat. Wer damals gemutmaßt hätte, dass diese Behörden einmal entstaatlicht und in Wirtschaftsbetriebe umgewandelt würden, wäre wahrscheinlich stehenden Fußes als unheilbar in die geschlossene Abteilung verbracht worden. In dieser Zeit glaubte sogar ein Kopf wie Willy Brandt allen Ernstes, der Staat würde zusammenbrechen, nur weil sich unter den Heerscharen der Bundespost-Briefträger ein paar armselige DKP-Witzfiguren befanden. Es war eine Zeit, in welcher der "Letzte Tango in Paris" in der westlichen Welt annähernd solch einen Sturm der Entrüstung entfachte wie heutzutage Mohammed-Karikaturen in der islamischen Welt. Aus diesem fernen Zeitalter stammt das Märchen vom Teilhaberecht. Nichts von damals existiert heute noch - nur das System "Kapazität". Alles klar? (Übrigens gab es 1972 auch noch - scheinbar ewig - den Albtraum des europäischen Kommunismus. Bei diesem Stichwort muss man schmunzelnd konstatieren, dass das System "Kapazität" von jeher den diskreten Charme der Kommandowirtschaft hat: das Verwaltungsgericht als Staatliche Plankommission der SED, die das Produktions-Soll diktiert. Kleiner Tipp, Jungs und Mädels: Besucht nicht immer nur Seminare bei dem Ärzteblatt-Autor, sondern auch mal beim Ältestenrat der PDS. - Na gut, sollte ein Witz, nehme ich zurück.)

Vertrauen is gutt ...

Um es also klar zu sagen: Es existiert kein Teilhaberecht, sondern die Anzahl der Studienplätze ergibt sich aus der Marktlage und aus der Festlegung durch die Hochschulen, so wie sich auch die Anzahl der Ausbildungsplätze in privatwirtschaftlichen Betrieben und in staatlichen Behörden ergibt. Es besteht überhaupt keine Veranlassung, den Hochschulen den Willen und die Fähigkeit abzusprechen, die "richtige" Studienplatzanzahl selbst festzulegen, und sie deshalb permanent "verwaltungsgerichtlicher Kontrolle" zu unterwerfen, wie es im 1972er Urteil mehr als degoutant heißt, was in der Realität bedeutet, sie alle 6 Monate als betrügerische Schwachköpfe vorzuführen. Will irgendjemand im Ernst behaupten, dass die Hochschulen andauernd absichtlich oder aus Dummheit zu wenige Studienplätze anbieten? Im Gegensatz zu privatwirtschaftlichen Betrieben und staatlichen Behörden, die nur "nebenbei" ausbilden, ist die Ausbildung von Studenten ja sogar der Betriebszweck der Hochschulen. Es wäre interessant, zu sehen, wie die Rechtsanwälte und Verwaltungsgerichte reagieren würden, wenn sie selbst permanent inquisitorisch darauf kontrolliert würden, ob sie noch mehr Fälle bearbeiten und noch mehr Rechtsanwalts-/Justizfachangestellte und Rechtsreferendare ausbilden könnten (und ob die Studenten, die "mithilfe" eines Gerichts einen Studienplatz erhielten, dereinst besonders eifrig und massenweise (Zahn)-Medizinische Fachangestellte - und Human- und Zahnmedizinstudenten! - ausbilden werden). Wenn überall so verfahren würde, wäre die Republik dauerhaft lahmgelegt.

Unberechenbar

Hinzu kommt, dass sich die "richtige" Anzahl der Studienplätze ohnehin nicht berechnen lässt, genauso wenig, wie sich berechnen lässt, wie groß Grundschulklassen sein sollen. Da hilft auch die Mär von der "erschöpfenden Nutzung der Ausbildungskapazität" (§ 1 Kapazitätsverordnung) nicht weiter. Diese ist ein durchaus löblicher Grundsatz, ebenso löblich - und objektivierbar und justiziabel - wie die Aufforderung "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" und "Üb immer Treu und Redlichkeit". Die "richtige" Anzahl der Studienplätze ist vielmehr eine Frage der gewissenhaften fachlichen Einschätzung von Inhalten, Didaktik und Ressourcen, das hat etwas mit Zielen und Qualitätsansprüchen zu tun und damit, was als angemessen, als insgesamt "richtig" an sich betrachtet wird - auch und nicht zuletzt in gesellschaftlicher Verantwortung. Das "Richtige" aber ist keine Frage abgedrehter Rechenmodelle. Die Hochschulen könnten niemals die "richtige" Studienplatzanzahl berechnen, da diese eben gar nicht objektiv berechenbar ist. Das heißt, es ist den Hochschulen gar nicht möglich, Gerichtsverfahren zu vermeiden, indem sie zuvor eine begehrte Forderung erfüllen. Dieses System beruht vielmehr darauf, dass die Rechtsanwälte die Unmöglichkeit dessen ausnutzen, was sie selbst zu behaupten vorgeben: die Berechenbarkeit der einzig richtigen Studienplatzanzahl. Und nach dem Schrotflintenprinzip (das der Verfasser des Ärzteblatt-Artikels mit unfreiwilliger Komik beschreibt) gelingt es folglich immer wieder, zusätzliche Studienplätze herauszupressen - der Koffer kann bekanntlich noch so voll sein, ein allerletztes Taschentuch passt doch hinein.

Und nun?

Was also können die Hochschulen tun? Sie könnten aus der Not eine Tugend machen und einfach davon absehen, selbst eine bestimmte Anzahl von Studienplätzen festzulegen (die ja sowieso immer falsch ist), und sich dadurch eine Menge Arbeit sparen. Stattdessen brauchten sie nur symbolisch einen einzigen Studienplatz anzubieten. Daraufhin treten die Rechtsanwälte und Verwaltungsgerichte das sattsam bekannte Verfahren los. Auf die Einvernahme durch die Verwaltungsgerichte brauchten sie ebenfalls nicht zu reagieren. Sodann setzen die Verwaltungsgerichte die Anzahl der Studienplätze eigenmächtig fest, wie sie dies ja immer tun. Auf diese Weise würde lediglich konsequent offenkundig, was im System "Kapazität" ohnehin faktische Realität ist: das Nirwana der Gewaltenteilung, indem die Verwaltungsgerichte gleichzeitig als Legislative, Exekutive und (manchmal sogar ein bisschen) Judikative in einem fungieren - das Rundum-Sorglos-Paket für geschäftstüchtige Rechtsanwälte.

Dies wäre zwar amüsant, würde aber nur von Galgenhumor zeugen, der hier gänzlich fehl am Platze ist. Stattdessen müssen die Hochschulen endlich in die Offensive gehen. Bislang funktioniert das System „Kapazität“ auch deshalb so perfekt und reibungslos, weil es keine Phalanx der 35 Hochschulklinika gibt, keine Zusammenarbeit, keine gemeinsamen Konzepte und Strategien - kein Signal zum Gegenangriff. Statt ihre gesellschaftliche, politische und juristische Macht zu bündeln und einen Aufstand durchzukämpfen, der das System ein für allemal sprengt, wurschteln die 35 Hochschulklinika einzeln und nur systemimmanent auf der operativen Ebene vor sich hin und verwirklichen im Wege des vorauseilenden Gehorsams den Grundsatz "Teile und herrsche!" Dabei reden sie sich verbissen ein (getreu dem Chirurgenmotto "Irgendwann muss es doch mal klappen"), hierdurch nach 50 Jahren den Stein der Weisen zu finden - sancta Simplicitas!

Zurück zu den Wurzeln

Die Hochschulen haben nur eine einzige Möglichkeit: Sie müssen dieses Thema zurück zum Bundesverfassungsgericht bringen. Einzig dort, wo das Teilhaberecht 1972 erfunden wurde, kann und muss seine Nichtexistenz festgestellt werden. Dabei dürfen sich die Hochschulen nicht durch Rechtsanwälte vertreten lassen (auch nicht durch solche, die bislang noch nicht das Glück hatten, am Kapazitäts-Kuchen teilzuhaben). Jeder Rechtsanwalt würde sofort in Loyalitätskonflikte gegenüber seinen anwaltlichen Kollegen geraten, denn das Gebaren der einschlägigen Rechtsanwalts-Clique muss in dem Verfahren beim Bundesverfassungsgericht zwangsläufig und unvermeidlich thematisiert und massiv angegriffen werden. Rechtsanwälte als Vertreter der Hochschulen hätten zudem latent Angst, sich bei den Verwaltungsgerichten für künftige Verfahren unbeliebt zu machen, denn auch deren Gebaren ist leider zu thematisieren und anzugreifen. Vielmehr müssen die Hochschulen eigene versierte und motivierte juristische Hochschullehrer mit ihrer Vertretung beauftragen. Den Hochschulen sei ein wunderbarer Satz aus dem 1972er Urteil mit auf den Weg gegeben und ans Herz gelegt: Sie haben "die Verpflichtung, im Rahmen des Möglichen beschleunigt das Notwendige zu tun."

Erinnerungen an die Zukunft

Die Rechtsanwälte und Verwaltungsgerichte geben sich in ihrer maßlosen Realitätsferne der Hoffnung hin, das System "Kapazität" werde noch 50 oder 100 Jahre bestehen. Aber manchmal brechen Mauern viel schneller zusammen als erwartet.

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(31.8.2022)